Hilfe statt Statistikerstreit
Grit Gernhardt über weiter steigende Armutszahlen in einem reichen Land
Statt sich mit der Bekämpfung der Ursachen zu beschäftigen, wird hierzulande gern über Berechnungsgrundlagen diskutiert. Gilt nun als arm, wer über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verfügt, oder nur der, der sich nicht jeden Tag ein warmes Essen leisten kann? Ist gesellschaftliche Teilhabe von Schulkindern mit einem kleinen Zuschuss zur Klassenfahrt ermöglicht oder erst, wenn alle Lehrbücher kostenlos bereitgestellt werden? Für die Betroffenen sind diese Fragen keine theoretischen Erwägungen oder politische Verhandlungsmasse, sondern fast unlösbare praktische Probleme.
Deswegen ist es umso bedauerlicher, dass sich die Sozialverbände, die den Armutsbericht herausgeben und aktuell wieder steigende Armutszahlen vermelden, jedes Jahr aufs Neue gegen Angriffe wirtschaftsnaher Statistiker und neoliberaler Medien wehren müssen. Die praktischen Vorschläge - Umverteilung von oben nach unten, mehr Geld für Bildung, sozialer Wohnungsbau etc. -, die politische Konsequenzen und vor allem finanziellen Einsatz nach sich ziehen würden, werden dagegen ungern diskutiert. Das wird sich im Bundestagswahljahr aber nicht ganz vermeiden lassen, denn die Union steht unter Druck durch die sich abzeichnende sozialpolitische Kampagne des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Für die Millionen Betroffenen ist zu hoffen, dass auf die Statistikdiskussion endlich konkrete Hilfen folgen.
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