Werbung

Zum Generalstreik gedrängt

Protestmarsch in Argentinien mündete in Ausrufung eines landesweiten Ausstandes

  • Jürgen Vogt, Buenos Aires
  • Lesedauer: 3 Min.

Argentiniens Präsident Mauricio Macri hat diese Woche die erste große Streik- und Protestwoche gegen seine unsoziale Politik erlebt. Am Montag und Dienstag traten die Lehrkräfte an den öffentliche Schulen in den Ausstand und vereitelten den planmäßigen Schulanfang nach den Sommerferien. Am Dienstag hatte der Gewerkschaftsdachverband (CGT) zu einem großen Marsch vor das Wirtschaftsministerium in der Hauptstadt Buenos Aires aufgerufen.

Der Protest richtet sich gegen die anhaltenden Entlassungen, die Abbau der Importbeschränkungen, der der heimischen Industrie zu schaffen macht, sowie die Forderung der Regierung bei den anstehenden Lohnverhandlungen die 18-Prozent-Marke nicht zu überschreiten. Doch was als Protestmarsch von Hunderttausenden begann, endete in Tumulten und Bildern von flüchtenden Gewerkschaftsführern.

Abgesehen von einer großen Demonstration aus Anlass des 1. Mai im vergangenen Jahr hat sich die CGT seit Macris Amtsantritt zurückgehalten. Im Gegenzug stimmte die Regierung einem Anti-Entlassungs-Pakt zu und billigte Lohnerhöhungen, die fast an die Inflationsrate von bis zu 40 Prozent heranreichten.

Beides ist inzwischen Makulatur. Nachdem die Entlassungen im öffentlichen und privatwirtschaftlichen Sektor kein Ende nahmen, erklärten die Gewerkschaften den Pakt für gescheitert. Fast zeitgleich kündigte die Regierung eine Deckelung der Lohnerhöhungen bei 18 Prozent an. Das wäre zwar ein Inflationsausgleich, aber 18 Prozent Inflationsrate für dieses Jahr sind nur eine Prognose der Regierung.

»18 Prozent sind ein Witz,« sagt Veronika Vega von der Gewerkschaft der öffentlichen Verwaltungsangestellten. Um fünf Uhr ist sie mit ihren Kolleginnen in der Provinzhauptstadt Santa Fe losgefahren, jetzt marschieren sie über die große Avenida 9 de Julio in Buenos Aires. Noch hätten die Lohnverhandlungen in ihrer Heimatprovinz Santa Fe nicht begonnen, »aber mindestens 30 Prozent brauchen wir,« sagt die 39-Jährige, hakt sich bei ihren Kolleginnen unter und geht in Richtung Ministerium.

Fernando Tancredi marschiert auf der Avenida Corrientes zur 9 de Julio. Der Gewerkschaftssekretär der Bankangestellten von Chivilcoy in der Provinz Buenos Aires hat andere Zahlen parat. »Die allgemeinen Prognosen sagen schon jetzt 24 Prozent vorher.« In seiner Branche wurde nach harten Verhandlungen bereits ein Anschluss erzielt. »24,5 Prozent für dieses Jahr - und sollte die Inflationsrate darüber liegen, wird nachverhandelt.«

An der Ecke Corrientes und 9 de Julio steht Gladys Munro und sieht den Vorbeiziehenden zu. »Die Regierung ist auf Konfrontationskurs gegangen,« sagt die 25-jährige Ökonomiestudentin. Für Macri sei offenbar Australien das große Vorbild. Anfang der 80er Jahre stagnierte dort die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit betrug rund zehn Prozent, die Inflation lag knapp unter 20 Prozent, das Defizit im Staatshaushalt erreichte Rekordniveau. »Also alles so ähnlich wie jetzt in Argentinien,« sagt Gladys.

Dann hätten sie alles umgekrempelt, Arbeitsgesetze geschleift, Steuerreformen durchgezogen, weniger auf die Industrie und mehr auf Dienstleistungen und die Veredelung von Rohstoffen gesetzt. »Nach einem Jahr kuscheln mit der Gewerkschaftsführung hat Macri die Umstrukturierung jetzt angepackt.« Die ersten Arbeitsgesetze seien schon kassiert, der Abbau der Importbeschränkungen bereits im Gang, um konkurrenzunfähige Industriebetriebe zum Aufgeben zu zwingen. »Was jetzt tobt, ist der Kampf um die Lohnkosten.« Im regionalen Vergleich sei Arbeitskraft in Argentinien für Investoren zu teuer, so Gladys. Das alles wüssten auch die Gewerkschaftsführer.

Dass es an der Basis weitaus heftiger brodelt als an der Spitze, trat bei der Anschlussveranstaltung offen zutage. Viele hatten damit gerechnet, nun endlich das Datum für den ersten Generalstreik gegen Macri zu erfahren. Doch die Führung blieb bei vagen Aussagen, und als sich der CGT-Vorsitzende Héctor Daer gar den Versprecher leistete: »Der Streik wird vor Jahresende stattfinden, Pardon, vor Monatsende.«, schlug die Stimmung gänzlich um, spielten sich tumultartige Szenen ab und besetzten wütende Gewerkschafter die Bühne.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -