Zwangslizenzen auch für den Arzneimittelexport
TRIPS-Zusatzartikel könnte Staaten in Notlagen Medikamente besser zugänglich machen
Das TRIPS-Abkommen hat seit Ende Januar seinen ersten Zusatz. Das Vertragswerk gilt »handelsbezogenen Aspekten der Rechte an geistigem Eigentum« und betrifft damit auch Medikamente unter Patentschutz. Für den Zusatzartikel ist endlich die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit zustande gekommen. Er erlaubt allen Mitgliedsländern der Welthandelsorganisation WTO, unter einer Zwangslizenz Medikamente herzustellen und diese in Staaten zu exportieren, die das selbst nicht können und sich in einer Notlage befinden, in der sie öffentlichen Interessen wie die Gesundheit ihrer Bürger schützen wollen.
Zwar war die Ausfuhr von Medikamenten, die unter Zwangslizenz hergestellt wurden, schon immer möglich, aber der Exportanteil durfte nicht überwiegen: Nach den TRIPS-Regeln musste eine Zwangslizenz überwiegend für den heimischen Markt bestimmt sein. Die niederländische Patentanwältin und Aktivistin Ellen ’t Hoen erläutert das Problem: »Die bisherige Situation war schwierig für Länder, die keine Produktionskapazität haben und sich auf exportierende Länder verlassen müssen, um einen effektiven Gebrauch von den Zwangslizenzen zu machen.« Ursprünglich war die Entscheidung für eine Sonderregelung zu den Exportrestriktionen bereits am 30. August 2003 gefallen. 2005 wurden sie angepasst zu einem ständigen Zusatz zum Abkommen - der sogenannte Artikel »31 bis«. Er trat jetzt erst in Kraft, nachdem ihn genug Länder ratifiziert hatten.
»In Anspruch genommen wurde die Sonderregelung seit 2003 nur einmal: Durch Kanada für die Herstellung einer generischen Dreifachkombination von HIV-Medikamenten für Ruanda,« erklärt ’t Hoen. Ärzte ohne Grenzen war daran beteiligt und resümierte damals enttäuscht: »Weder schnell noch eine Lösung«. Warum dauerte es dennoch 11 Jahre, um die nötige Staatenmehrheit zu erreichen? »Ratifizierungsprozesse sind langsam, aber vielleicht gab es hier auch ein Element des Widerwillens. Verschiedene Staaten einschließlich Indien hatten nach einer Überprüfung der Maßnahme gefragt und wollten Veränderungen,« vermutet ’t Hoen. Die Niederländerin war selbst lange in leitender Funktion bei Ärzte ohne Grenzen tätig. 2010 gründet sie den Medicines Patent Pool. Diese UN-gestützte Organisation mit Sitz in der Schweiz bietet ein Geschäftsmodell, das von der öffentlichen Gesundheit bestimmt wird. Ziel sind Preissenkungen für Medikamente gegen HIV, Tuberkulose und Hepatitis C durch freiwillige Lizenzen und das Einbringen von Patenten in einen gemeinsamen Pool.
Der TRIPS-Zusatzartikel kann laut ’t Hoen auch im regionalen Handel genutzt werden, zum Beispiel bei einer Mehrheit von Ländern, die zu den am wenigsten entwickelten (LDC-)Staaten gehören. »Sie können darauf zurückgreifen und zur Sicherung der wirtschaftlichen Herstellung in die ganze Region - zum Beispiel ins südliche Afrika - importieren.«
Der Zusatzartikel würde auch westlichen Generikaherstellern ermöglichen, sich auf eine derartige »Notlagen-Versorgung« auszurichten. Die EU hat bereits eine Regelung dafür implementiert. Aus ’t Hoens Sicht ist aber offen, ob das Geschäftsmodell für die Produzenten attraktiv genug ist, weil jeweils von Fall zu Fall entschieden wird: »Insgesamt sind die großen Pharmahersteller sehr stark gegen die Nutzung von Zwangslizenzen, weil sie sie als Angriff auf ihre Patentrechte sehen. Was sie natürlich nicht sind. Zwangslizenzensierungen sind ein Akt von Regierungen, um öffentliche Interessen zu schützen.«
Ellen ’t Hoen verweist noch auf einen anderen wichtigen Punkt: »EU-Unternehmen können zwar auf Anfrage produzieren und dann in andere Staaten exportieren. Die EU selbst ist aber aus der Maßnahme ausgestiegen, ihre Staaten können nicht in anderen Ländern nachfragen. Wenn Deutschland zum Beispiel preiswertere Krebsmedikamente aus Indien importieren wollte, die dort patentiert sind, kann sie «31 bis» nicht in Anspruch nehmen, um Indien mit der Produktion zu beauftragen. Dieses stärkt natürlich die Pharmahersteller und schwächt den Staat, zum Beispiel in Preisverhandlungen.« Offenbar hatten die EU-Unterhändler bei dieser Entscheidung nicht vorhergesehen, welche Art der Medikamentenpreiskrise - etwa bei den neuen Hepatitis-C-Mitteln oder modernen Onkologika - nun in Europa existiert.
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