Nicht mehr an die Zukunft denken
Lukas Bärfuss erzählt über einen Verweigerer
Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss kennt die Prozedur einer Nominierung für einen Buchpreis. 2014 stand er mit »Koala«, dem Roman über den Freitod seines Bruders, auf der Shortlist für den Deutschen und später auch für den Schweizer Buchpreis, den er gewann. In »Koala« ist Bärfuss seinem toten Bruder in dessen Leben nachgegangen, in dem neuen und für den Leipziger Buchpreis nominierten Roman »Hagard« geht ein leicht übergewichtiger Mann Mitte vierzig, der beruflich mit Immobiliengeschäften ausgefüllt ist, einer jungen Frau nach. Beide sind müde: vom ewigen Ehrgeizigsein, Glücklichsein, Geselligsein. Müde von einer Kultur, die dem Menschen, so er innehält, fremd vorkommen muss.
Philip, typischer Held eines Bärfuss-Romans, hält inne, als er einer fremdem Frau nachgeht. Diese obsessive Handlung entsteht durch einen Zufall. Eine Wartestunde ist zu überbrücken, plötzlich in der Menge der Rücken der Frau, eine bestimmte Bewegungsart und schon ist der Mann hinter ihr her. Erste Überraschung: Er folgt ihr nicht, weil er die Frau, von der er glaubt, dass sie Ende zwanzig ist, ansprechen und in ein Liebesabenteuer ziehen will. Er hat bis zum Ende des Romans nicht ein einziges Mal ihr Gesicht gesehen! Warum er ihr dennoch folgt, einen Abend und den nächsten Tag, bleibt ein Rätsel. Dieses Rätsel führt dazu, dass nun seinerseits der Leser sich diesem unheilvollen Gespann anschließt mit der Frage: Warum macht er das? Die Banalität der Dinge des Lebens, die dem Mann dabei verloren gehen: Geld, ein Schuh, ein funktionierendes Handy, sind in ihrer Summe alles andere als banal. Sie werfen ihn aus seinem gewohnten Leben hinaus. Ihm widerfährt eine Verstörung.
Bärfuss richtet sich den Grundstrom seiner Erzählung so ein, dass der Mann, der grundlos einer Frau folgt, jetzt ein poeto-philosophischer Fall ist. Bärfuss attackiert die neue Welt mit einem zivilisatorisch hochgerüsteten Protagonisten, der sich nichts sehnlicher wünscht, als seine Existenz an eine andere Existenz zu hängen. Einfach um sich die Gedanken über seine Zukunft zu ersparen. Er wollte an nichts mehr denken, was »jenseits des nächsten Herzschlags« lag. Es erleichterte ihn, »keine Entscheidungen treffen zu müssen«.
Ein wenig erscheint Philip als männliche Parallelfigur zur Ines Conradi aus dem Film »Toni Erdmann« von Maren Ade. Ist es im Film der Vater, der als Toni Erdmann seine Tochter aus ihrem Panzer befreit, ist es in Lukas Bärfuss’ Roman die Hauptfigur selbst, die sich dem richtig aussehenden Leben einer fremden Frau anschließt, um aus ihrem falschen rauszukommen.
Über dieses Thema erzählt Lukas Bärfuss die Geschichte trotz allerlei Verrätselungen und Abschweifungen zu anderen Figuren beinahe wie ein kleines Lehrstück. Deshalb auch erweckt »Hagard« den Gedanken, dieses Buch wäre die Romanausführung eines kulturkritischen Essays. Zweifellos beschäftigt die bestechende Ausführung den Leser, weil sie am Ende den Mut besitzt, alles wieder zurückzunehmen. Denn es fragt sich, ob es Philip und die Frau überhaupt gegeben hat oder ob alles letztlich die Selbsttherapie eines Schriftstellers ist, der mittels Erzählen aus seinem mit Regeln und Gewohnheiten zugeschnürten Leben raus will.
Ein Roman voller Überraschungen. Bärfuss ist poetisch genug, um philosophisch werden zu dürfen. Alles vorhanden auf 175 Seiten, was ein guter Roman braucht. Wir bekommen einen sympathischen Protagonisten, der als Immobilienentwickler vermögend ist, aber in einem nur äußerlich gelungenen Leben feststeckt. Und wir bekommen das Ganze als Lehrstück über Entfremdung und Kapitalismuskritik samt Anleitung zur Selbstbefreiung.
Lukas Bärfuss: Hagard. Roman. Wallstein, 176 S., geb., 19,90 €.
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