Niedersachsen darf Gefährder abschieben
Anwältin des festgenommenen Algeriers bestreitet Terrorismusvorwurf - Rückführung noch diese Woche?
Zwei von den Behörden als «Salafisten» und «Gefährder» bezeichnete Männer aus Göttingen, die bei einer Großrazzia am 9. Februar unter Terrorismusverdacht festgenommen worden waren, sollen möglicherweise noch in dieser Woche abgeschoben werden. Das Bundesverwaltungsgericht lehnte am Dienstag in einem Eilverfahren Eingaben des Algeriers und des Nigerianers gegen die vom niedersächsischen Innenministerium verfügten Abschiebungen ab. Diese erfolgen erstmals in Deutschland nach Paragraf 58a des Aufenthaltsgesetzes - er erlaubt eine Abschiebung auch ohne vorherige Ausreiseaufforderung, wenn von den Betreffenden eine «terroristische» oder «besondere Gefahr» ausgeht.
Zumindest im Fall des 27-jährigen Algeriers Salif S. (Name geändert) gibt es daran Zweifel: Denn nach Angaben seiner Anwältin und von Angehörigen hat er - anders als Verlautbarungen der Polizei und von Landesinnenminister Boris Pistorius (SPD) es nahe legen - Anschläge weder geplant noch angekündigt. Die Familie mutmaßt sogar, nach der Razzia von der Polizei präsentierte Waffen, unter anderem scharf gemachte Deko-Pistolen, Munition und eine Machete, könnten den Verdächtigen untergeschoben und die Männer für politische Zwecke geopfert worden sein.
Bei der Razzia hatten rund 450 Polizistinnen und Polizisten, darunter auch Spezialkommandos, elf Wohnungen in Göttingen und Kassel durchsucht. Nach den Worten von Göttingens Polizeichef Uwe Lührig bestand «die Gefahr eines schweren islamistisch motivierten Anschlags». Die Pläne seien so weit fortgeschritten gewesen, dass er jederzeit habe ausgeführt werden können. Für ihr Vorgehen erhielten die Beamten viel Lob, auch der Göttinger Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin (Grüne) sprach von einem «Beispiel guter Polizeiarbeit».
Die Generalstaatsanwaltschaft Celle kam allerdings zu dem Schluss, dass die beiden Männer Anschlagspläne zwar diskutiert, aber noch keine konkrete Straftat beschlossen hätten. Deshalb sah die Behörde keinen Anlass für strafrechtliche Ermittlungen. Das Innenministerium erließ gegen die beiden in Deutschland geborenen Männer gleichwohl Abschiebungsanordnungen, die Betroffenen kamen aus dem Gewahrsam in Abschiebehaft. «Wir senden damit bundesweit ein klares Signal an alle Fanatiker, dass wir ihnen keinen Zentimeter für ihre menschenverachtenden Pläne lassen», sagte Pistorius nach Bekanntwerden des Gerichtsurteils. «Sie haben jederzeit mit der vollen Härte der uns zur Verfügung stehenden Mittel zu rechnen, völlig egal, ob sie hier aufgewachsen sind oder nicht.»
«Es gab gar keine Anschlagspläne zwischen Herrn S. und dem Nigerianer, definitiv nicht», sagt dagegen Rechtsanwältin Sandra Themann von der Göttinger Kanzlei Matani, die Salif S. vertritt. Am Telefon abgehörte Äußerungen «mit religiösem Bezug» seien von der Polizei als «salafistisches Gedankengut» interpretiert worden. Mit dem Nigerianer sei ihr Mandant ohnehin nur flüchtig bekannt gewesen, «die haben sich auch nicht zu einem Anschlag verabredet». «Ich halte Herrn S. generell für glaubwürdig», fügt die Juristin hinzu. Den Paragrafen 58a bezeichnet sie als «schwammig». Dass er jetzt zu Ungunsten von Salif S. ausgelegt werde, sei «eventuell auch eine politische Entscheidung».
Auch in die Wohnungen der Mutter von Salif S. und von den Geschwistern kam am 9. Februar die Polizei. «Wir haben alle noch geschlafen», erinnert sich die Familie. «Dann haben wir einen Knall gehört. Wir dachten, es ist Krieg. Wir dachten, wir sterben jetzt.» Die Beamten hatten gewaltsam die Tür aufgebrochen.
Als eine Schwester erschrocken und im Pyjama zum Eingang lief, standen 15 bis 20 maskierte und mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer im Wohnzimmer. «Polizei. Auf den Boden, sofort», habe einer gerufen. Mehrere Familienmitglieder wurden in Handschellen gelegt und durften nur in Begleitung einer Beamtin auf die Toilette gehen.
Die Familie bezeichnet sich als nicht sehr religiös, viele Mitglieder besuchen nie eine Moschee, ein Bruder geht regelmäßig in die Kneipe. «Unsere Freunde sind »zu 90 Prozent Deutsche«, sagt eine Angehörige. »Und wir waren immer gegen Islamismus.«
Laut dem Durchsuchungsbeschluss, den die Polizisten vorzeigten, sollten die Wohnungen der Familie nach Waffen durchsucht werden. »Sie haben dort keine gefunden«, sagt Anwältin Themann. Am Tag vor der Razzia haben Bund und Länder ihre Pläne für eine verschärfte Abschiebepraxis vorgestellt.
Die Kanzlei Matani will ihre Sicht des Falles nun in einer Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht vortragen. Aufschiebende Wirkung hätte diese aber nicht. Ihr Mandant könnte schon in dieser oder der nächsten Woche abgeschoben werden, sagt Anwältin Themann. Sie hat am Mittwochmorgen mit Salif telefoniert. »Er ist total in Panik«, sagt sie. »Er hat Angst, dass er in Algerien misshandelt und gefoltert wird.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.