Irrweg der Austeritätspolitik

Der Wirtschaftswissenschaftler Klaus Busch über Hindernisse und Möglichkeiten einer sozialen Europäischen Union

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Die EU-Elite feiert in Rom, während die EU zu zerbröseln droht. Ein Grund dafür ist der neoliberale Charakter der EU, also Sozialabbau, prekäre Jobs, soziale Ungleichheit. Warum ist die EU nicht sozialer?
Ich würde nicht sagen, dass die EU einen neoliberalen Charakter hat, aber sie macht seit einigen Jahren eine neoliberale Politik. Das liegt an den politischen Mehrheitsverhältnissen, vor allem in den Mitgliedstaaten. Wir haben fast überall, von Portugal und Griechenland abgesehen, Regierungen, die seit der großen Finanzkrise 2008/2009 auf nationaler Ebene eine neoliberale Austeritätspolitik betreiben. Das spiegelt sich eben auf der EU-Ebene wider.

Aber es gab doch Ideen und Konzepte, die EU sozialer zu gestalten.
Ja, im Zuge der Finanz- und Eurokrise gab es insbesondere 2012/2013 den Versuch, die Strukturmängel der Wirtschafts- und Währungsunion zu bekämpfen. Das sind vor allen Dingen die nicht vorhandene europäische Fiskalpolitik und der zu kleine EU-Haushalt. Auch unter Druck des französischen Präsidenten François Hollande schlug der damalige EU-Sozialkommissar László Andor vor, die soziale Dimension zu stärken. Aus meiner Sicht war das bislang der fortschrittlichste Vorschlag zur Vertiefung der sozialen Dimension seitens der EU-Kommission.

Klaus Busch

Klaus Busch ist Professor (i.R.) für Europäische Studien an der Universität Osnabrück und europapolitischer Berater der Gewerkschaft ver.di. Jüngste Buchveröffentlichungen: »Europa geht auch solidarisch« (zusammen mit Gesine Schwan, Frank Bsirske u.a.) sowie »Das Versagen Europas« (beide VSA 2016). Mit dem Wirtschaftswissenschaftler sprach Guido Speckmann.

Was schlug Andor vor?
Im Bereich der Beschäftigungs-, Einkommens- und Lohnpolitik Indikatoren festzulegen, um dann auf der Grundlage der Feststellung von Disparitäten Instrumente zur Überwindung der Ungleichgewichte anzuwenden.

Und was wurde aus den Vorschlägen?
Sie wurden kleingeredet. Was blieb, war ein Satz von unverbindlichen Empfehlungen, die bei der Entwicklung der europäischen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zu berücksichtigen seien.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat vor Kurzem ein Weißbuch zur Zukunft Europas veröffentlicht. Kommen da soziale Aspekte vor?
Nein, daran sieht man, wie schwach die Diskussion an dieser Front geworden ist. 2015 hat Juncker mit anderen Präsidenten den Fünf-Präsidenten-Bericht vorgelegt - ein fader Abglanz dessen, was zuvor diskutiert worden ist. Es gibt nur noch sehr vage Vorstellungen davon, wie die Wirtschafts- und Währungsunion vertieft werden kann. Bei der sozialen Dimension läuft es darauf hinaus, den sozialen Dialog zu stärken. Hinzu kommt ein problematisches Element: Es sollen nationale Beobachtungsstellen für die Lohnpolitik eingerichtet werden. Wenn in einem Land eine Lohnpolitik betrieben wird, die die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt, dann sollen Vorschläge gemacht werden, wie dieser Form von expansiver Lohnpolitik begegnet werden kann. Das ist eine neoliberale Form von Eingriffen in die nationale Lohnpolitik.

Wie beurteilen Sie die Rolle Deutschlands?
Deutschland könnte einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung der Probleme der EU, der Austeritätspolitik, leisten, indem es seine günstige Haushaltssituation für eine expansive Fiskalpolitik nutzt. So könnten Investitionen in den Bereichen Bildung, Hochschulen, Infrastruktur angeregt werden. Und das würde auch Exporte aus anderen EU-Ländern nach Deutschland stimulieren. Deutschlands großer Leistungsbilanzüberschuss könnte so abgebaut werden.

Diskutiert wird momentan über ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Was bedeutet das für ein sozialeres Europa?
Diese Forderung halte ich für richtig. Durch die Aufnahme neuer Mitgliedsländer ist die EU zu einer äußerst heterogenen Union geworden. Es gibt das liberale Europa mit Großbritannien und Irland. Es gibt das skandinavische Europa, das sehr vorsichtig ist im Hinblick auf Vertiefung der Integration. Und es gibt in Osteuropa viele Regierungen, die sich am angelsächsischen liberalen Modell der Wirtschafts- und Sozialpolitik orientieren. So ist es schwierig, nennenswerte Vertiefungsschritte zu gehen, egal in welchem Bereich. In dem Buch «Europa geht auch solidarisch» machen wir sechs radikale Vorschläge zur Vertiefung der Integration. Zur Umsetzung benötigt man eine verstärkte Zusammenarbeit von mindestens elf Staaten. Diese müssen voranschreiten - natürlich immer mit der Option, dass sich weitere Staaten anschließen.

Was sind das für Vorschläge für ein «solidarisches Europa?
Als erstes die Überwindung der Austeritätspolitik durch eine expansive Fiskalpolitik. Dann geht es darum, die Leistungsbilanzunterschiede zu bekämpfen und eine gemeinschaftliche Schuldenpolitik durch die Ausgabe von Eurobonds zu betreiben. Ferner gilt es, in Fortführung von László Andor Schritte zu einer Sozialunion einzuleiten. Darüber hinaus sind verschärfte Regeln für die Regulierung der Finanzmärkte unabdingbar und als sechstes schlagen wir eine demokratisch legitimierte europäische Wirtschaftsregierung vor.

Was halten Sie von Ansätzen, aus dem Euro auszusteigen, um die Hoheit über die nationale Wirtschaftspolitik wiederzuerlangen?
Ich halte das für einen ökonomischen Irrweg, gerade für Länder, die Leistungsbilanz- und Schuldenprobleme haben und zu den schwächeren der EU zählen. Eine Abwertung der Währung bedeutet für diese Länder, dass sich die Schuldenproblematik mit der nationalen Währung verschärft. Der Schuldendienst würde größer werden, das Zinsniveau würde steigen. Die Länder wären im Gegenteil noch stärker von den internationalen Finanzmärkten abhängig als vorher.

Sie sprechen von einem »integrationspolitischen Dilemma« der EU. Was meinen Sie damit?
Das Dilemma besteht darin, dass die EU die Integration im Sinne der von uns skizzierten Radikalvorschläge vorantreiben müsste, um aus der Krise herauszukommen. Aber momentan hat sie aufgrund der politischen Verhältnisse und nach wie vor vorhandener neoliberaler Mehrheiten in den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeiten, das umzusetzen. Sie kann aber auch nicht zurückgehen, weil sie damit die Integration auflösen würde.

Gibt es keine Hoffnung auf einen Ausweg aus dem Dilemma?
Doch, mit einer rot-rot-grünen Regierung in Berlin und Emmanuel Macron als Präsident in Frankreich wäre es denkbar, dass die austeritäts- und haushaltspolitischen Vorgaben gegenüber den südeuropäischen Staaten gelockert werden und in der EU ein Kurswechsel eingeleitet wird.

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