Die Hölle von San Salvador
Bürgermeister Nayib Bukele über Gewalt und den Versuch, das soziale Netz in der Gesellschaft neu aufzubauen
San Salvador ist eine der gefährlichsten Städte der Welt. Wie kommt es zu dieser extremen Gewalt?
Wenn eine Person eine andere ermordet, dann könnte man denken, dass diese Person gewalttätig ist oder vielleicht ein Soziopath. Aber wenn sich Tausende von Jugendlichen den Jugendbanden anschließen, den sogenannten pandillas, dann haben wir es nicht mehr mit einem Soziopathen zu tun, sondern mit einem sozialen Phänomen. Wie viele Kinder reicher Eltern sind Mitglieder einer pandilla? Kein Einziges! Sind die Reichen also die besseren Menschen? Natürlich nicht. Die Jugendbanden sind ein soziales Phänomen, und die Gewalt ist eine Konsequenz daraus.
… die in der Vergangenheit oft mit einer Politik der harten Hand bekämpft wurde.
Man muss die strukturellen Gründe der Gewalt bekämpfen. Wenn man Kopfschmerzen hat und ein Schmerzmittel nimmt, dann gehen die Kopfschmerzen wahrscheinlich weg. Aber wenn man die Kopfschmerzen wirklich heilen will, vor allem, wenn es sich um etwas Ernstes handelt, wie zum Beispiel einen Tumor, dann geht das nicht mit einem Schmerzmittel. In El Salvador wollten wir unseren Tumor im Kopf gleich mit einem ganzen Eimer voller Schmerzmittel heilen. Wir haben Polizei in den Straßen und bewaffnete Sicherheitskräfte vor den Geschäften: Wir nehmen riesige Mengen an Schmerzmitteln, aber der Schmerz geht einfach nicht weg.
Nayib Bukele ist als politischer Quereinsteiger ist der 35-Jährige im März 2015 überraschend zum Bürgermeister der Hauptstadt gewählt worden. Für das »nd« sprach Martin Reischke mit ihm über seine politischen Pläne.
Wie also lässt er sich bekämpfen?
Niemand ist gegen das Schmerzmittel, und niemand ist gegen die Polizei, aber offenbar ist das nicht die Lösung. Wir müssen die soziale Struktur ändern, die die Gewalt hervorgerufen hat. Der Grund für diese Gewalt sind die Ungleichheit und die Exklusion breiter Bevölkerungsschichten.
Einer Ihrer politischen Pläne ist die Rückgewinnung der Stadt, angefangen mit dem historischen Zentrum. Sie wollen die historischen Parks und Plätze des Zentrums mit teuren Materialien wie Granit und Marmor aufwerten. Warum geben Sie dafür so viel Geld aus?
Im Alten Griechenland oder im Alten Rom waren die öffentlichen Räume die schönsten, weil sie allen gehörten, weil sie ein gesellschaftliches Erbe waren. In Lateinamerika dagegen sind die öffentlichen Räume hässlich und heruntergekommen, und das Private ist am schönsten. Diese Kultur wollen wir verändern. Wir wollen, dass die öffentlichen Räume in der ganzen Stadt wieder attraktiv werden. Das wird uns zwar nicht in ein Land ohne Gewalt verwandeln, aber es ist ein erster Schritt.
Es geht also um ein Investitionsprogramm in Infrastruktur und öffentliche Gebäude?
Die Infrastruktur allein sorgt für einen Wandel, aber dieser Wandel ist vergleichsweise gering. Erst wenn sie begleitet wird von einem neuen Denken, wird es einen wirklichen Wandel geben.
Sie sind gerade einmal 35 Jahre alt, vor allem jüngere Menschen haben Ihnen zu Ihrem Wahlerfolg verholfen. Wie spiegelt sich das in Ihrer Politik wider?
Früher galten die Skater, Breakdancer oder Hip-Hopper schon fast als kriminell. Heute hat die Stadtverwaltung eine Abteilung, die alle diese Arten der Jugendkultur unterstützt und fördert.
Wie reagieren darauf ältere Menschen, die immer eine Politik der harten Hand gefordert haben?
Sie sehen, dass wir keine schlechten Absichten haben. Wir sind nicht gegen die Dinge, die sie als wichtig für ihr Leben erachten: Wir sind nicht gegen die Religion, gegen die traditionellen Werte und Prinzipien. Ganz im Gegenteil. Und die Tatsache, dass wir ihren Enkel nicht stigmatisieren, nur weil er ein Tattoo trägt oder gerne Skateboard fährt, mag ihnen am Anfang vielleicht nicht gefallen. Aber wenn sie merken, dass wir ihren Enkel gesellschaftlich einbinden, statt ihn in die Arme der Jugendbanden zu treiben, werden sie merken, dass es so besser funktioniert.
Ihre Vorstellung einer starken Stadtverwaltung mit vielen öffentlichen Dienstleistungen entspricht nicht gerade der traditionellen Position eines großen Teils der Wirtschaftselite des Landes. Wie sind Ihre Beziehungen zu diesem Teil der Gesellschaft?
Das ist der Preis, den wir zahlen müssen. Es sind auch nicht alle Unternehmer, es gibt viele sehr fortschrittliche Unternehmer, die verstehen, dass es ihren eigenen Interessen dient, wenn es dem Land besser geht. Aber ja: In El Salvador gibt es eine Oligarchie, die seit der Kolonialzeit existiert. Wer gegen diese Kräfte kämpft, zahlt einen hohen Preis: politisch, ökonomisch und medial. Bisher haben wir dieses Problem gut in den Griff bekommen, und die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt uns. Wir haben uns ein paar Gegner gemacht, aber ich denke, das ist es wert, weil sich die Dinge nicht ändern werden, wenn man immer das Gleiche macht.
»La Prensa Gráfica«, eine der größten Tageszeitung im Land, beschuldigt Sie, hinter Cyberattacken gegen das Blatt zu stecken, die Staatsanwaltschaft untersucht den Fall.
Ich glaube, das ist ein Selbstschutzmechanismus des Systems. Wenn jemand kommt und dieses System verändern will, dann ist es normal, dass das System attackiert. Für uns ist das ein Hinweis darauf, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Aber selbst mit ihrer eigenen Partei, der regierenden Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN), haben Sie immer wieder Konflikte.
Auch wenn der Bürgermeister keine wirklich große Macht hat, hat er ein großes Sprachrohr zur Verfügung und wird im ganzen Land wahrgenommen. Wir haben das genutzt, um unsere Politik zu verteidigen und die Projekte zu kritisieren, die aus unserer Sicht nicht dafür geeignet sind, das soziale Netz in der Gesellschaft neu aufzubauen. Oft haben wir das gegen die Regierung gemacht, obwohl wir von der gleichen Partei sind.
Das Mikrofon wäre noch größer, wenn Sie Präsident des Landes wären. Interessiert Sie diese Option überhaupt?
Ich glaube nicht, dass es einen Politiker gibt, den diese Option nicht interessiert. Natürlich ist das attraktiv.
Werden Sie als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2018 antreten?
Das halte ich für unmöglich. Das Problem ist nicht, dass ich nicht möchte oder dass es mich nicht interessiert, aber aufgrund des Zweiparteiensystems im Land und meiner Kritik an der FMLN halte ich das für unmöglich.
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