Wie auf Samtpfoten

In kommunaler Regierungsverantwortung agiert die Front National gemäßigt. Doch sie will die Macht im Staate

  • Bernard Schmid
  • Lesedauer: 7 Min.

In einem Schrebergarten am Rande einer kleinen Hochhaussiedlung von Creil, einer Gemeinde in der ehemaligen Region und Provinz Picardie im Norden Frankreichs, steht Gérard. Er ist Mitte 60, frisch verrentet und er wird, daraus macht er keinen Hehl, für die Front National (FN) stimmen. »Wir haben unser Leben lang hart gearbeitet«, meint der Mann, der als Schweißer und als Fahrer auf Baustellen tätig war. »Und heute? Da bleibt uns am Monatsende nichts mehr übrig. Und dann sieht man in der Siedlung diese Jungen: Sie beziehen Sozialhilfe, und dreimal am Tag sieht man sie am Steuer von anderen Autos sitzen. Und nur Markenturnschuhe tragen sie. Finden Sie das etwa normal?«

Gérard scheint auf die Existenz von kleinkriminellen Netzwerken, insbesondere auf Dealer in der Hochhaussiedlung anzuspielen. Junge Erwachsene sind wegen der ökonomischen Situation und aufgrund ihrer Herkunft vom Zugang zu regulären Jobs weitgehend ausgeschlossen. Für sie ist somit oftmals die Dealerei die einzige Einkommensquelle.

Creil im Département (Verwaltungsbezirk) Oise wählt überdurchschnittlich stark FN. Bei der letzten Europaparlamentswahl 2014 waren es 33 Prozent. In historischer Erinnerung ist der Name Creil in Frankreich durch eine Affäre geblieben. Im September 1989 brach hier die sogenannte Affaire de Creil aus. Es handelte sich um den ersten Kulturkampf um das muslimische Kopftuch an französischen Bildungsanstalten. Ein Schuldirektor, Mitglied der konservativen Partei RPR, eine der Vorläuferparteien von Les Républicains vom jetzigen Präsidentschaftskandidaten François Fillon, ordnete den Schulausschluss der marokkanischstämmigen Mädchen Fatima und Leila Achahboun sowie Samira Saidani an. Der Anlass : Sie trugen eine Kopfbedeckung. Der ideologische Streit darum kochte schnell hoch. Anfang Dezember 1989 stand in Dreux - westlich von Paris - eine Nachwahl für einen frei gewordenen Parlamentssitz an. Dabei erhielt die FN-Kandidatin Marie-France Stirbois spektakuläre 61,3 Prozent und zog in die Nationalversammlung ein - als damals einzige Abgeordnete ihrer Partei unter dem Mehrheitswahlrecht.

Doch die Ursache für den gegenwärtigen Erfolg der FN in Creil ist nicht in erster Linie in der damaligen Kopftuchaffäre zu suchen, sondern in den sozioökonomischen Verhältnissen der Region. So handelt es sich zum einen beim Bezirk Oise, wie bei der Picardie insgesamt, um eine von industriellem Abstieg und Jobverlust geprägte Region. Zum anderen wurden im Département Oise nach dem Ende des Algerienkriegs 1962 viele frühere Soldaten aus dem Kolonialkrieg angesiedelt, die vom Staat günstigen Baugrund erhielten.

Die Regierung des Rechtssozialdemokraten Guy Mollet hatte 1956 die Wehrpflichtigenarmee mitsamt Grundwehrdienstleistenden nach Nordafrika abkommandiert, so dass in Algerien insgesamt über 500 000 Soldaten Dienst taten. Viele kamen mit Traumata zurück, manche auch mit ausgeprägten rassistischen Revanchegelüsten. Ihre Präsenz hat die Region in den letzten Jahrzehnten nachhaltig mit geprägt.

In den Landstrichen der Picardie hätte die Front National beinahe schon einmal regiert: Bei den Regionalparlamentswahlen vor anderthalb Jahren sagten viele Umfragen der rechtsextremen Partei einen Sieg vor allem in Nordostfrankreich voraus. Zum selben Zeitpunkt, Ende 2015, verschwanden mehrere alte Verwaltungsregionen Frankreichs, und die bisherigen Regionen Picardie, Nord sowie Pas-de-Calais wurden in der neuen Großeinheit unter dem Namen Hauts-de-France zusammengefasst. Bei ihr handelte es sich um eine von drei der insgesamt 13 neuen Großregionen, in denen ein Durchmarsch der Le Pen-Partei bis in die Regionalregierung möglich erschien. Letztendlich kam es aber anders: Die Sammlung von WählerInnen aus unterschiedlichen Lagern, von links bis konservativ, versperrte der FN doch noch den Weg. Sie konnte keine einzige Regionalexekutive stellen.

Ob es dieses Jahr wieder so kommt, wenn am kommenden Sonntag und am 7. Mai ein neues französisches Staatsoberhaupt und im Juni ein neues Parlament gewählt wird, ist derzeit noch offen. Eines ist aber sicher: An der Picardie wird es wohl nicht liegen, wenn Marine Le Pen beim Versuch scheitert, Präsidentin Frankreichs zu werden.

Sechzig Kilometer weiter östlich von Creil liegt Soissons, eine Gemeinde mit historischem Stadtkern, den eine gotische Kathedrale und alte Gebäude säumen. Die Fahrt dorthin führt durch Gegenden nordöstlich der Hauptstadtregion, in denen überdurchschnittlich stark rechtsextrem gewählt wird. Für gewöhnlich stellt man sich die Landschaft der Picardie als eine von Rüben- und Kohlfeldern geprägte vor. Tatsächlich ist sie jedoch nahe der Städte industriell geprägt. Industriebrachen und -ruinen wechseln sich ab mit Metallbetrieben, in denen fleißig gehämmert wird.

An jenem kühlen Frühjahrsabend findet eine Debatte in Soissons zum Thema statt, wie man den Rassismus bekämpfen könne. Eingeladen haben die Liga für Menschenrechte, Gewerkschaften und das Kollektiv gegen die extreme Rechte aus der Nachbarstadt Villers-Cotterêts, deren Rathaus seit 2014 als eine von zwölf Kommunen in Frankreich von der FN regiert wird. Rund 30 Menschen sind gekommen. Dominique Natanson, um die 60, ist der Veranstalter. Er ist Geschichtslehrer und ein landesweites Führungsmitglied der »Französischen jüdischen Union für den Frieden«, die unter anderem zu Rassismus und zum Israel-Palästina-Konflikt arbeitet. Vom Zulauf ist er eher enttäuscht: »Ich wohne hier seit den 1970er Jahren. In früheren Zeiten hätten die Linksparteien den Saal, wo wir uns heute versammelt haben, mit einer dreistelligen Anzahl von Menschen voll bekommen.«

Jean ist ein junger Geschichtslehrer in Soisson und hat sich viel mit Antisemitismus und Rassismus beschäftigt. Er erzählt eine Begebenheit, die sich einige Tage zuvor ereignet hat und in seinen Augen illustriert, wie sehr sich der Einfluss der Ideen der FN vor Ort normalisiert hat: »Jedes Jahr am 21. März, dem internationalen Tag zur Rassismusbekämpfung, richten wir schulische Veranstaltungen aus. In diesem Jahr forderten wir unsere Schüler im Vorfeld dazu auf, an diesem Tag ein rosafarbenes oder rotes Kleidungsstück zu tragen. Aber in eine meiner Klassen kamen 20 Schüler demonstrativ in Marineblau.« Marineblau ist die Wahlkampffarbe der FN-Vorsitzenden. Diesen Auftritt, den man als uniformiert bezeichnen könnte, hatten die Schüler zuvor sogar angekündigt.

Im benachbarten Villers-Cotterêts regiert die Front National bereits. An einigen symbolpolitischen Fragen hat die rechtsextreme Partei in den letzten Jahren zu polarisieren vermocht. So fand bis dahin alljährlich am 10. Mai, dem Jahrestag der gesetzlichen Abschaffung der Sklaverei in Frankreich und seinen Kolonien im Jahr 1848, eine offizielle Gedenkveranstaltung statt. Villers-Cotterêts spielte dabei landesweit eine Schlüsselrolle, denn hier verstarb 1806 der aus Haiti stammende General Thomas Alexandre Dumas - der erste schwarze Armeeführer Frankreichs. Er war der Vater des berühmten Schriftstellers Alexandre Dumas, der ebenfalls in dieser Stadt zur Welt kam, in der sich der Vater nach dem Ägypten-Feldzug Napoléon I. niederließ. Doch die neu gewählte FN-Stadtregierung hat in den letzten drei Jahren die Beteiligung der Kommune an dem Gedenkfeiertag abgesagt. Eine Erinnerung an die Sklaverei soll nicht stattfinden, da man keinen »nationalen Masochismus« in Sachen Geschichtspolitik wünscht, heißt es dazu.

José Gaspard vom Kreisverband der Lehrergewerkschaft bei der der Kommunistischen Partei nahestehenden CGT ist in Villers-Cotterêts tätig. Bei aller Empörung über das Agieren der FN-Kommunalregierung beobachtet er nicht, dass diese sich diskreditiert hätte: »Sofern die FN-Politiker nicht landesweit die Macht haben, agieren sie wie auf Samtpfoten und versuchen, nicht zu weit zu gehen.« Bei einem der Skandale in Villers-Cotterêts unter der FN-Regierung ging es darum, dass die Stadt einer Beratungsstelle die Mittel kürzte, in der die CGT abhängig Beschäftigte zu arbeitsrechtlichen Fragen - etwa bei Kündigungsdrohungen - beriet.

»Doch die FN-Manschaft im Rathaus war nicht so dumm«, meint Gaspard, »dass sie der CGT den totalen Krieg erklärte«. Die vorherige Rathausregierung unter dem Sozialdemokraten Jean-Claude Pruski habe versucht, die CGT aus den Räumen der Stadt hinauszudrängen, die dem Gewerkschaftsverband zur Nutzung überlassen worden waren. »An dem Punkt spielte die FN nun die Großzügige: Bitte schön, bleibt doch drin!«, erzählt Gaspard. Deswegen werde die FN-Amtsführung auch nicht in breiten Kreisen als spektakulär oder bedrohlich wahrgenommen. So lange die FN nicht auch die Macht auf Staatsebene innehabe, um die es ihr eigentlich gehe, werde sich dies wohl auch nicht ändern.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!