Blühende Vetternwirtschaft

Korruptionsfälle überschatten Chiles Politik und haben auch die Justiz erreicht

  • Malte Seiwerth, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 8 Min.
Daniel Jadue im September nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis. Durch die Haft hat er seinen Posten als Bürgermeister verloren.
Daniel Jadue im September nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis. Durch die Haft hat er seinen Posten als Bürgermeister verloren.

Ein paar Dutzend Menschen haben sich bei den Treppen der Nationalbibliothek im Zentrum von Santiago versammelt. Einige halten Fahnen der mitregierenden Kommunistischen Partei Chiles in die Luft, andere das Konterfei des ehemaligen kommunistischen Bürgermeisters der Hauptstadtgemeinde Recoleta und Präsidentschaftskandidaten von 2022, Daniel Jadue. Sie fordern seine Straffreiheit. Dem Bürgermeister wird Amtsmissbrauch und Betrug vorgeworfen. Seine Unterstützer*innen halten dagegen, es handele sich um eine schmutzige Kampagne, um von einer Reihe von Justiz- und Korruptionsskandalen abzulenken, die derzeit vor allem die rechten Parteien Chiles treffen.

Zweifellos ist es der größte Korruptionsskandal seit der Rückkehr zur Demokratie, der derzeit die chilenische Justiz überschattet. Immer neue Machenschaften werden im Zusammenhang eines Verfahrens gegen den einflussreichen Rechtsanwalt Luis Hermosilla bekannt, in dem vor allem rechte Politiker*innen, öffentliche Ausschreibungen untereinander ausgehandelt, öffentliche Posten vergeben und geltende Gesetzgebungen umgangen haben. Der Skandal zeigt, wie eng die Justiz mit der Politik verbunden ist. Aufgedeckt könnte auch noch werden, dass einer der bekanntesten Politiker der Kommunistischen Partei vorsätzlich zu Fall gebracht wurde. Dafür spricht einiges.

Nach dem dritten Verhandlungstag gegen Jadue entschied ein Gericht im Juni, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu stecken. Der damals noch amtierende Bürgermeister sei eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, hieß es. Jadue sollte danach zwei Monate im Gefängnis verbringen und aufgrund seiner erzwungenen Abwesenheit sein Amt verlieren. Ende August wandelte ein Gericht die Untersuchungshaft in Hausarrest um.

Für die Kommunistin Karen Araya war das ein Affront. Das, was ihm zur Last gelegt wird, sei im Vergleich zu anderen Korruptionsvorwürfen gegen amtierende oder ehemalige Bürgermeister*innen relativ wenig; trotzdem habe man bislang nur bei Jadue entschieden, ihn in Untersuchungshaft zu stecken.

Tatsächlich ist der Fall Jadue besonders. Im Gegensatz zu anderen Korruptionsfällen, bei denen Bürgermeistern persönliche Bereicherung und Vetternwirtschaft vorgeworfen wurde, geht es bei Jadue darum, dass er Gelder zwischen verschiedenen öffentlichen Institutionen hin- und hergeschoben und dabei gegen Gesetze verstoßen haben soll.

Kommunistische Vorzeigeprojekte

Konkret geht es um eines seiner Vorzeigeprojekte. Jadue gründete 2015 die sogenannte Volksapotheke. Eine gemeindeeigene Apotheke, die über das öffentliche Beschaffungssystem des Gesundheitsministeriums Medikamente günstig einkauft und zum Selbstkostenpreis abgibt. Das war ein Schlag gegen die großen Apothekenketten, die erst kurz zuvor wegen Preisabsprachen in die Schlagzeilen gerieten.

Der einflussreiche Rechtsanwalt Luis Hermosilla zog im Hintergrund die Strippen. Jetzt steht er selbst vor Gericht.
Der einflussreiche Rechtsanwalt Luis Hermosilla zog im Hintergrund die Strippen. Jetzt steht er selbst vor Gericht.

Das Projekt fand Nachahmer, mehr als 140 Gemeinden übernahmen das Format und gründeten gemeinsam eine Vereinigung von Volksapotheken, deren Vorsitz Jadue übernahm. Seine Politik sorgte für Schlagzeilen und galt als positives Beispiel, wie auf lokaler Ebene größere Veränderungen angestoßen werden können. Später schuf Jadue nach dem gleichen Muster einen Volksoptiker, ein Volksbestattungsunternehmen, eine Volksimmobiliengesellschaft und eine Volksbücherei.

Doch im Zuge der Corona-Pandemie geriet das Projekt in Schieflage: Die Vereinigung von Volksapotheken, die den Kauf für alle Apotheken übernahm, kam in die roten Zahlen, da viele Gemeinden ihre Beiträge und Rechnungen nicht zahlten und Jadue übereifrig ein in Chile nicht zugelassenes Medikament zur Covid-Behandlung aus Kuba kaufte. Auf dem blieb die Vereinigung sitzen.

Zulieferunternehmen klagten daraufhin Jadue an, dieser habe eine Lieferung aus dem Jahr 2020 nicht bezahlt und fälschlicherweise vorgegeben, die Vereinigung habe genügend Gelder, um den Kauf zu tätigen. Die Staatsanwaltschaft behauptet, Jadue habe in der Not Mittel der Gemeinde Recoleta genutzt, um Schulden der Volksapothekenvereinigung zu tilgen. Außerdem habe Jadue von einem Unternehmen verlangt, Hilfsgüter zur Covid-Bekämpfung an die Kommunistische Partei zu spenden.

Für Araya sind all dies erfundene Anklagen. »Die zielen alle darauf ab, das Renommee und politische Werk von Jadue zu beschädigen.« Schon in der Vergangenheit habe man versucht, Jadue juristisch loszuwerden. Bislang allerdings ohne Erfolg.

Chile hatte im lateinamerikanischen Vergleich lange Zeit relativ wenige Probleme mit der Korruption. Bis vor Kurzem schien es wenig wahrscheinlich, dass ein Gericht und die Staatsanwaltschaft aus politischen Motiven gegen eine Person vorgehen. Transparency International listete das Land im Jahr 2023 im Korruptionsranking auf Platz 23 von 150. Doch schon seit Längerem rügt die Uno eine Einmischung der Politik in die Justiz. Zuletzt meinte die UN-Sonderberichterstatterin für die Unabhängigkeit von Richtern und Rechtsanwälten, Margaret Satterthwaite, im August nach einem Besuch in Chile, dass es einer schnellen Reaktion auf die Vorwürfe einer Einflussnahme von Privatpersonen auf die Justiz benötige.

Dabei bezog sich Satterthwaite auf den bislang größten Korruptionsfall in diesem Zusammenhang: den Skandal um den mächtigen Rechtsanwalt Luis Hermosilla. Bereits im November 2023 hatte das Investigativportal »Ciper« mitgeschnittene Sprachnachrichten veröffentlicht. Die belegen eine Absprache zwischen Hermosilla und einem Klienten; anhand von Bestechungsgeldern wollen sie Ermittlungen wegen Steuerhinterziehung gegen einen Klienten beeinflussen.

Seitdem reiht sich ein Skandal an den nächsten: Im März 2024 wurde der Direktor der chilenischen Kriminalpolizei Sergio Muñoz entlassen und festgenommen, weil er Informationen an Hermosilla weitergegeben haben soll. Anfang September wurde schließlich bekannt, dass der Anwalt enge Kontakte zur später ernannten Obersten Richterin Angela Vivanco gehabt haben soll. Veröffentlichte Chatnachrichten deuten darauf hin, dass Vivanco im Jahr 2018 Hermosilla darum bat, ihr bei der Ernennung zur Richterin zu helfen. Im Gegenzug sorgte Vivanco dafür, in wichtigen Gerichtsverfahren anwesend zu sein und im Sinne von Hermosilla Entscheidungen zu treffen. Vivancos Stimme als oberste Richterin war bei verschiedenen brisanten Gerichtsfällen zu Steuerhinterziehung, Betrug und Menschenrechtsverletzungen entscheidend. Mittlerweile wurde sie ihres Amtes enthoben.

Hermosilla arbeitete unter anderem als Berater für die rechte Regierung von Sebastián Piñera und hatte gute Verbindungen zum ehemaligen Innenminister Andrés Chadwik. Im Zuge der Ermittlungen wurde ein ganzes Netzwerk aufgedeckt, in dem sich rechte Politiker*innen, Unternehmer*innen und private Universitäten untereinander absprachen und Gelder vergaben.

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Seit August 2024 sitzt Hermosilla in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Bestechung, Geldwäsche und Steuerhinterziehung vor. Zwischen 2022 und 2024 soll Hermosilla umgerechnet mehr als 1,4 Millionen Euro am Fiskus vorbei verdient haben.

Es sei der erste Korruptionsfall in der chilenischen Geschichte, an dem alle Staatsgewalten beteiligt sind, erklärt Michel Figueroa von Transparency Chile. »Mit Luis Hermosilla steht ein Mann im Rampenlicht, der keine offizielle Position innehatte, aber trotzdem die Entscheidungen der Obersten Gerichte, der Staatsanwaltschaft, von Parlamentariern und der Exekutive beeinflussen konnte.« Dieser Fall berge die Gefahr, dass der gesamte chilenische Staat an Legitimität verlieren könnte. Es sei nun wichtig, den Fall ruhig und sachlich aufzuklären; nicht hinter jedem Fall dürfe man Machtstrukturen von Hermosilla vermuten, sagt Figueroa.

Im Visier der Rechten

Die Unterstützer*innen des ehemaligen Bürgermeisters Jadue vermuten jedoch einen Zusammenhang: Karen Araya erklärt, die chilenische Rechte habe Jadue ins Visier genommen, seitdem dieser rechtlich gegen den Bau von zwei Hochhäusern und einer privaten Universität vorging. Jadue war der Ansicht, die lokale Vorgängerregierung habe illegal Baulizenzen für die zu hohen Gebäude ausgegeben, die außerdem Teile von öffentlichem Grund beanspruchen.

Kurzerhand verbot er der privaten Universität San Sebastián 2012, eine Einfahrt zum eigenen Parkhaus zu nutzen, da diese auf öffentlichem Raum gebaut wurde. Ein Jahr später verweigerte er dem letzten der noch nicht fertiggestellten drei Hochhäuser die Bezugsgenehmigung. Alle gerichtlichen Instanzen bestätigten bislang die Entscheidungen des Bürgermeisters.

»Mit Luis Hermosilla steht ein Mann im Rampenlicht, der keine offizielle Position innehatte, aber trotzdem die Entscheidungen der Obersten Gerichte, der Staatsanwaltschaft, von Parlamentariern und der Exekutive beeinflussen konnte.«

Michel Figueroa Transparency Chile

Auffällig hierbei ist, dass zwar sowohl das Bauunternehmen als auch die private Universität keine direkten Verbindungen zu rechten Parteien haben; aber mehrere ehemalige Minister*innen und hohe Beamt*innen der damaligen rechten Regierung unter Sebastián Piñera wurden nach Ende ihrer Amtszeit als Professor*innen bei der Universität angestellt. Gegen mindestens drei von ihnen wurden bereits Vorwürfe geäußert, dass sie in Korruptionsfälle verwickelt sein könnten. Darunter der ehemalige Innenminister Andrés Chadwick.

Noch gibt es viele offene Fragen: Waren die chilenischen Gerichte tatsächlich politisch motiviert? Wie viele Fälle aus der Vergangenheit müssen jetzt aufgerollt werden? Gehört der Fall Jadue dazu? Oder ist es einfach der Fall eines linken Politikers, der zu hoch gepokert hat?

Eines steht zumindest fest, meint Figueroa von Transparency Chile: Die Justiz müsse nun schnell handeln. Sie sollte gegen die Verantwortlichen vorgehen und Strukturreformen herbeiführen. Sonst würde die chilenische Justiz schnell an Legitimität verlieren und mit ihr auch die chilenische Oberschicht infrage gestellt werden. Denn die behaupte immer wieder, durch harte Arbeit ihr Geld verdient zu haben, betont Figueroa. Dabei zeige sich längst, dass es »in Chile eine Elite gibt, die sich durch Vetternwirtschaft an der Macht hält«.

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