Rojava - großtürkisches Feindbild

Türkische Armee bombardiert erneut kurdische Autonomiegebiete in Nordsyrien und Nordirak

  • Michael Sommerfeld, Hassekeh
  • Lesedauer: 5 Min.

In den Morgenstunden des Dienstag bombardierten türkische Kampfflugzeuge im Shengal und in Nordsyrien Radiostationen der regionalen Sender »Cira TV« und »Stimme Rojavas«, die den demokratischen Selbstverwaltungen nahestehen. Ebenso wurden das Hauptquartier, das Medienzentrum und andere militärische Institutionen der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) auf dem Berg Qaracox Ziel der Angriffe. Bei den Angriffen im Shengal in Nordirak kam ein Zivilist ums Leben, ein Kämpfer der jesidischen Shengal-Widerstandseinheiten wurde verletzt. Ebenso starben bei den Angriffen fünf Soldaten der Peschmerga-Kämpfer der Demokratischen Partei Kurdistans. Sie sind die bewaffnete Formation der kurdischen Autonomieregierung in Nordirak, halten aber auch Stellungen im Shengal. Bei den Angriffen in Nordsyrien fielen den türkischen Bombenangriffen mindestens 20 Kämpfer der YPG und Mitarbeiter des Radiosenders zum Opfer.

Mervan Rojava, Mitarbeiter des YPG-Medienzentrums, überlebte den Angriff. Gegenüber »neues deutschland« beschreibt er das Geschehen folgendermaßen: »Um genau zwei Uhr nachts haben türkische Kampfflugzeuge unseren Sender und umliegende Verteidigungsstellungen schwer bombardiert. Sie warfen Dutzende Raketen und Bomben ab, der Angriff dauerte etwa anderthalb Stunden.« Er selbst habe den Angriff leicht verletzt überlebt. Zuvor sollen türkische Aufklärungsdrohnen die Umgebung ausgekundschaftet haben. »Sie nahmen gezielt unsere YPG-Pressestelle ins Visier. Sowohl das Medienzentrum als auch die Radiostation und die Druckerpresse wurden zerstört.«

Die türkischen Luftangriffe auf die selbstverwalteten kurdischen Gebiete Nordsyriens und auf Shengal in Nordirak finden in einer Zeit statt, die nicht nur für die weitere Entwicklung des Syrien- bzw. Irak-Krieges entscheidend ist. Es geht auch um die Zukunft des autokratischen Regimes des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Seit der Verteidigung der syrisch-türkischen Grenzstadt Kobanî im Frühling 2015 durch die Frauen- und Volksverteidigungseinheiten der YPG und dem steten Zurückweichen des Islamischen Staates (IS) in Irak und Syrien entwickelt sich die politisch-militärische Lage in eine für Ankara ungünstige Richtung. Außenpolitisch manövrierte sich Erdogan durch eine aggressive Expansionspolitik in Syrien und Irak immer weiter ins politische Abseits. Die unklare Haltung der türkischen Regierung gegenüber dem IS und wiederholte Vorwürfe direkter und indirekter Unterstützung der dschihadistischen Banden im syrischen Bürgerkrieg durch den türkischen Staat machten Ankara als alleinigen Bündnispartner für USA und der NATO in der Region zunehmend problematisch.

Die USA suchten das Bündnis mit den Verteidigungskräften der autonomen kurdisch-syrischen Kantone in Rojava, den YPG, und sind bemüht, ihnen eine sichere Zone in Nordsyrien zu garantieren. Inzwischen gelten sie als Syrisch-Demokratische Kräfte (SDF) unter maßgeblicher Führung der YPG als Hauptverbündete der USA im Kampf gegen den IS.

Aufgrund ihres integrativen Charakters schlossen sich viele lokale Einheiten in Nordsyrien den SDF an. Vor wenigen Wochen erreichten die SDF den Stadtrand der nordostsyrischen Großstadt Raqqa, um den IS in seiner eigenen Hauptstadt zu besiegen.

Aldar Xelîl, außenpolitischer Sprecher der Selbstverwaltung von Rojava, wies in einer Stellungnahme auf den Zeitpunkt des türkischen Angriffs hin: »Weil in Raqqa die IS-Banden in die Enge getrieben wurden, weil sie in Mossul geschlagen sind und der IS dem Ende entgegengeht, hat die Türkei ihre Angriffe intensiviert. Sie wollen ihm Luft verschaffen.«

Seit der Revolution von Rojava im Sommer 2012 sind die selbstverwalteten Gebiete Ankara ein Dorn im Auge. Sie stehen jenem neo-osmanischen Projekt im Wege, wie es erklärtes Ziel der in der Türkei regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und der sie stützenden Kräfte des politisch-sunnitischen Islam ist. Wiederholt meldete Erdogan Ansprüche auf Städte wie Kirkuk, Mossul, Aleppo und andere Gebieten Syriens und Iraks an.

Ein wesentliches Hindernis für das politische Projekt der AKP sind dabei jene syrisch-kurdischen Kräfte, auf die sich die USA im Kampf gegen den IS verlassen. Wiederholt provozierte die türkische Armee deshalb an der Grenze zu Nordsyrien, überschritt sie die Grenze und errichtete seit dem Herbst auf syrischem Gebiet eine Mauer entlang der Grenze sowie militärische Infrastruktur.

Seit den neunziger Jahren sind die Berge Nordiraks Rückzugsgebiet der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die für eine Lösung der kurdischen Frage in der Türkei kämpft. Unter deren Führung wurden innerhalb der vergangenen zehn Jahre in den Gebieten der Südosttürkei Strukturen autonomer Selbstverwaltung aufgebaut, die zeitweise staatliche Strukturen ersetzen konnten.

Seit 2013 befand sich die kurdische Bewegung in Verhandlungen mit der AKP-Regierung, die allerdings im Sommer 2015 nach der Befreiung von Kobanî die Gespräche abrupt beendete. Es folgten eine massive Verfolgung kurdischer Aktivist_innen und Angriffe auf die Selbstverwaltungen im kurdischen Südosten der Türkei. In den darauffolgenden monatelangen Kämpfen mit Militanten aus der kurdischen Jugend, die sich in Selbstverteidigungseinheiten organisierten, legte die türkische Armee ganze Städte des Südostens in Schutt und Asche.

Trotz massiver Repression und Einschüchterung lehnte die überwiegende Mehrheit der Region beim Referendum die Einführung des neuen Präsidialsystems ab. Die nunmehrigen Angriffe der türkischen Armee auf die syrisch-kurdische Selbstverwaltung und auf Shengal sind daher nicht zu trennen von der kurdischen Frage in der Türkei - ein Zerschlagen der kurdischen Autonomie in Nordsyrien soll auch die kurdische Bevölkerung innerhalb der Türkei zum Schweigen bringen.

Die Gebiete Rojavas und Shengals stellen zusammen mit den Grenzgebieten zu Nordirak, die seit den Neunzigern Rückzugsgebiet der Guerillaeinheiten der PKK sind, ein entscheidendes Hindernis für die politischen Pläne Erdogans dar. Seit dem Terrorfeldzug des IS gegen die Minderheit der Jesiden im Shengal und der Intervention der PKK will Erdogan mit allen Mitteln verhindern, dass die jesidische Bevölkerung im Shengal zusammen mit der PKK eine Autonomiezone etablieren kann.

Das Jesidentum wird als ursprüngliche kurdische Glaubensform angesehen, die auf Formen des Zoroasthrismus und Naturmythologien zurückgeht. Entsprechend stehen die Angriffe auf Nordsyrien, Shengal und die Operationen gegen die PKK in Nordirak im Zusammenhang. Sie sind offenbar Teil eines Planes, die kurdische Befreiungsbewegung in drei Regionen zu schlagen.

Sollten die jetzigen Operationen der türkischen Armee nicht zur Zerschlagung der kurdischen Befreiungsbewegung führen, könnte dies das Ende der Herrschaft Erdogans bedeuten. »Erdogan möchte seine Schwäche mit dieser Aggression überspielen«, heißt es in einer Stellungnahme der demokratischen Selbstverwaltung Rojavas. Sie ruft alle fortschrittlichen Kräfte auf, Position zu beziehen und sich für eine wirkliche Demokratisierung des Mittleren Ostens einzusetzen.

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