Gerechte Wut
Christopher Hörster sieht im Europa-Frust eine angemessene Reaktion auf die augenblickliche Politik
Man muss sich wundern, wenn man auf das von rechten Populisten dominierte Europa schaut. Denn ironischerweise ist es, als wären in den letzten Jahren buchstäblich alle Prophezeiungen der warnenden, linken Stimmen eingetreten.
Die Kapitalverkehrsfreiheit, die Liberalisierung der Finanzmärkte und die gemeinsame Währung schufen in Europa den modernen Finanzkapitalismus. Nach dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 mündete dieser schließlich, angestoßen durch die Immobilienkrise in den USA, im großen Finanzcrash 2008. Der herbe Rückschlag auf die Realwirtschaft beraubte Hunderttausende Menschen ihrer Lebensgrundlage. Die öffentlichen Hände retteten den maroden Bankensektor mit Milliarden Steuergeldern. Den Preis für die Krise zahlten die sozial Schwächsten. Die Löhne schrumpften, die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich, öffentliche Leistungen wurden zurückgefahren. Armut und Frustration nahmen rapide zu.
Besieht man sich diese Entwicklung, müsste die europäische Linke den Kontinent unangefochten regieren. Etablierte oder neue linke Parteien konnten jedoch in den meisten Ländern nicht in dem Umfang von der Krise profitieren, wie es die Populisten vom rechten Rand vermocht haben. Vergegenwärtigt man sich, dass die augenblickliche gesellschaftliche Situation einerseits gefährlich und andererseits seit Jahrzehnten die aussichtsreichste für eine radikale politische Wende ist, stellt sich notwendigerweise die Frage: Was muss die europäisch Linke tun?
Wie Dieter Klein in seinem Beitrag für die »Blätter für deutsche und internationale Politik« zutreffend herausgearbeitet hat, muss sich Politik zunächst zum Anwalt des vorherrschenden Grundgefühls in der Bevölkerung machen. Die auf dem europäischen Kontinent überall zunehmende Frustration hat meines Erachtens zwei wesentliche Ursachen:
Zum einen wird die Wut durch die massive Verschlechterung der Lebensbedingungen verursacht. Die gesunkenen Reallöhne und höherer Arbeitsdruck sind nur zwei Beispiele dafür. Weil gleichzeitig besser gestellte Verursacher bei der Krisenbewältigung verschont wurden, weckt die eigenen Not große Wut.
Zum anderen haben immer mehr europäische Bürger/innen das Gefühl, von der Politik nicht wahrgenommen zu werden. In der Sichtweise vieler werden politische Entscheidungen inzwischen abgekoppelt von der Bevölkerung oder Wahlen und maßgeblich von einer kleinen Elite - dem »Establishment« - getroffen, das sich nicht dem Allgemeinwohl, sondern den eigenen Interessen verpflichtet fühlt. Zu großer Wut gesellt sich ein Gefühl der Frustration und Machtlosigkeit.
Möchte sich eine linke Politik nun zum ehrlichen Anwalt der Bürger/innen machen, muss sie klarstellen: Eure Wut ist gerecht! Kein »Wir verstehen Euch, aber...«, sondern ein »Gut so!«. Denn die um sich greifende Frustration ist keine primitive Antwort der Ungebildeten, sondern die einzig angemessene Reaktion auf die augenblickliche Politik. Europa ist ungerecht! Gleiches gilt im Kern für die generelle Wut auf »das Establishment«. Schon der Umgang mit den gescheiterten Referenden zur europäischen Verfassung in Frankreich und den Niederlanden lieferte Grund zur Besorgnis. Trotz der klaren Ablehnung in beiden Ländern wurde die Verfassung durch den Vertrag von Lissabon im Ergebnis fast inhaltsgleich und ohne erneute Volksbefragung beschlossen. Seit dem Ausbruch der Krise ist die Tendenz, an den Bürger/innen vorbei zu regieren, noch deutlicher geworden. Die »Troika« – ein völlig intransparentes Entscheidungsgremium - wurde vielerorts faktisch an die Stelle der gewählten Parlamente gesetzt. Wo die Menschen sich an den Urnen gegen die Austeritätspolitik wandten – beispielsweise bei den Wahlen von Hollande oder Tsipras – führte dies zu keiner Abkehr von der desaströsen Politik. Entscheidungen werden immer öfter autoritär und weit entfernt von Wählern/innen getroffen. Darüber kann, darüber sollte man sauer sein.
Zu einer ehrlichen Vertretung der Bürger gehört auch, die Verantwortlichen der heutigen Situation zu benennen. Große Marktakteure, die trotz Milliardengewinnen weniger Steuern zahlen als eine Reinigungskraft, haben Namen. Banken, die nach immensen Rettungspaketen mit den gleichen Methoden weiterspekulieren, haben Logos und Vorstände. Noch wichtiger ist jedoch, die Verantwortlichen in der Politik aufzuzeigen. Die massiven Ungerechtigkeiten der letzten 10 Jahre wären ohne die Kooperation der europäischen Sozialdemokratie – in Deutschland auch der grünen Partei - unmöglich gewesen. In einem Moment, in dem die Bürger/innen des Schutzes der Politik dringend bedürft hätten, haben die sozialdemokratischen Parteien zulasten ihrer Wähler/innen einseitig den Macht- und Wohlstandserhalt der Finanzeliten gesichert. Bis heute legt die europäische Sozialdemokratie eine frappierende Unfähigkeit an den Tag, wenn es darum geht, ernsthaft umzusteuern. Um als Anwalt der Vielen glaubhaft zu sein, gilt es sich hiervon deutlich abzugrenzen.
Eine linke Politik sollte eine moderne, linke Erzählung anbieten. Das wesentlichste Element einer solchen Erzählung muss eine positive Perspektive sein, welche die beiden zentralen Aspekte der generellen Unzufriedenheit – verschlechterte Lebensbedingungen und mangelnde Mitbestimmung – aufgreift. Viele der erfolgreichen Erzählungen der letzten Jahre, wie »Yes we can« oder »Podemos«, geben im Kern einen hoffnungsvollen Ausblick und vermitteln dem Einzelnen das Gefühl, selber einen Unterschied machen zu können. Der Erfolg gründet sich daher insbesondere auf der Mobilisierung von Gruppen, die bislang aus Frustration von politischer Teilhabe Abstand genommen haben.
Hierbei ist meines Erachtens vor allem eine ausgeprägte Vehemenz, ja Radikalität der angebotenen Lösungen notwendig. Zunächst kann den gravierenden sozialen Schieflagen durch solche Lösungen am effektivsten begegnet werden. Vor allem entspricht aber eine gewisse Radikalität der Stimmung in weiten Teilen der benachteiligten Bevölkerung und kann so für die Mobilisierung von Mitstreitern ein zentraler Faktor sein.
So müssen als erstes Missstände der Bürger/innen aufgezeigt und konsequente Lösungen angeboten werden. Ein Fünf-Punkte-Plan könnte beispielsweise beinhalten: Sofortige Steuerpflicht für alle und keine Schlupflöcher mehr für Apple, Starbucks und Co, um finanzielle Mittel für eine handlungsfähige Politik zu generieren. Eine massive Intervention auf dem Wohnungsmarkt, welche die Spekulation mit Wohnraum zurückdrängt und die Bezahlbarkeit der eigenen vier Wände garantiert. Eine branchenübergreifende, jährliche Lohnsteigerung von mindestens 5 %. Großangelegte Investitionen in staatliche Infrastruktur wie Schulen, Gesundheitswesen und Polizei, um die Versorgung der Bevölkerung mit dem Essentiellsten einer modernen Gesellschaft wieder sicherzustellen. Schließlich ein stabiles Trennbankensystem, was ein Einspringen des Steuerzahlers für Spekulationsschulen definitiv und auf Dauer ausschließt. Entgegen dem diskreditierenden Narrativ der Regierenden sind solche Vorschläge keine Rattenfängerphantasien. Eine gerechte Politik ist möglich und finanzierbar.
Der zweite positive Ausblick einer linken Erzählung sollte das Versprechen wirklicher politischer Teilhabe sein. Dies könnte beispielweise bedeuten, dass sich eine Politik alle 100 Tagen selber zum Fortschritt bezüglich ihrer zentralen Versprechungen erklärt und zeigt, dass Wahlen nicht zur Farce verkommen. Die weiteren, auch durch die Digitalisierung begründeten Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung sind mannigfaltig. Zentral ist, der zunehmend autoritären Politik und damit verbundenen Desillusion der Bürger/innen etwas entgegenzusetzen. Das konsequente Eintreten für transparente und am Willen der 99% orientierte Entscheidungsfindung würde der Erzählung zu einer Dimension moralischer Erneuerung verhelfen, die für einen Erfolg essentiell ist.
Die aufgezeigten Komponenten könnten insgesamt ein modernes und überzeugendes Narrativ formen. Insbesondere das Versprechen eines radikalen Umsteuerns erscheint mir zentral, da sich Wut und Enttäuschung der Europäer/innen zu wenig in den politischen Programmen der linken Kräfte spiegeln. Es geht nicht um vereinfachenden Populismus, sondern um eine glaubwürdige Alternative zur versagenden Sozialdemokratie, die durch einen gewaltfreien, aber radikalen Diskurs Handlungswillen zeigt. Wird das augenblickliche gesellschaftliche Momentum nicht im Sinne einer solidarischen und demokratischen Politik genutzt, könnte man sich nach der nächsten Finanzkrise mit politischen Gegnern konfrontiert sehen, neben denen Marine Le Pen wie eine verweichlichte Konformistin erscheint. Die letzten 250 Jahre europäische Wirtschaftsgeschichte haben gelehrt: der Kapitalismus überlebt jede Krise. Die Demokratie nicht.
Christopher Hörster ist Richter am Amtsgericht Wuppertal. Im Jahr 2013 war er zu Beginn seiner juristischen Laufbahn in Brüssel tätig. Anschließend unternahm er eine dreimonatige Recherchereise zur Eurokrise durch Südeuropa. Hieraus entstand das Buch »Per Anhalter durch die Krise«.
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