Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Fakt?! Franz Walter über ein heikles Postulat, die legitime Erwartung, dass die Verhältnisse auch anders sein könnten - und einen Wandel der politischer Kultur
»Fakt ist…« So begann der frühere Erste Sekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland, Erich Honecker, gern und häufig seine Reden. Auf das, was dann kam, brauchte man nicht viel zu geben, musste es vor allem nicht für bare Münzen nehmen. Da auch andere Politiker der ostdeutschen Staatspartei gern »Fakt ist« agitatorisch hinaustrompeteten, mied man in halbwegs sprachsensiblen Kreisen während der 1960/70/80er Jahre den Rückgriff auf den Terminus »Fakt«. Der SED-Jargon hatte diesen Begriff gewissermaßen kompromittiert.
Doch ist die DDR seit 27 Jahren Geschichte; und auch Erstsemester im Studium der Politikwissenschaften wissen vielfach nicht mehr, wer denn dieser Honecker überhaupt war. Insofern ist ebenfalls die Erinnerung an den eigenwilligen Gebrauch der Zuschreibung »Fakt« durch die Redenableser aus der Sozialistischen Einheitspartei weithin verblasst. Und Infolgedessen ist mittlerweile auch in bundesdeutschen Wissenschaftskreisen wieder die ganz vorbehaltlose Dignität des »Fakts« zurückgekehrt. Fakten sind objektiv, Ergebnis empirischer Forschungen; sie bedeuten verbindliche Erkenntnis. So klang es weithin ebenfalls auf dem »intellektuell selbstgenügsamen« »March of Science« letzten Samstag, auf dem das »simple Credo, dass Fakten für sich sprechen«, dominierte, wie es auf der aktuellen, regelmäßig erstaunlich kritischen Seite »Forschung und Lehre« in der FAZ heißt.
Daher bleibt Unbehagen. Schließlich erinnert das donnernde Dogma eherner Fakten ein wenig an den ehrerbietigen wie apodiktischen Gebrauch der Vokabel »Wirklichkeit« vor etwa 10 bis 15 Jahren, mit dem damals durchaus einseitig, keineswegs objektiv oder für das allgemeine Wohl gleichermaßen gültige politisch-soziale Fakten hergestellt wurden. »Wirklichkeit« war in den Jahren der geistigen Hegemonie neuliberalen Denkens und Redens eine favorisierte Kampfvokabel, die aber als ganz unschuldig drapierte Beschreibung lediglich dessen herkam, was als real erschien oder in dieser Sicht für jeden vernünftigen Mensch zu sein hatte. Wann immer Ökonomieliberale dieser Fasson den Sozialstaat attackierten, dann operierten sie seinerzeit mit diesem Begriff der »Wirklichkeit«. Der Sozialstaat wäre, hieß es, eine entschieden zu teuer gewordene Chimäre bequemer, verwöhnter, risikoängstlicher Menschen. Als nüchterne Realität dagegen reklamierte man die eisige Konkurrenz des Wettbewerbs, die erbarmungslose Herausforderung des globalen Arbeitsmarktes. Nur wenn die Bürger in den modernen kapitalistischen Gesellschaften sich dieser Realität stellten, also länger arbeiteten, weniger verdienten, für Medikamente selber aufkämen und ihre Altersvorsorge durch private Anbieter organisieren ließen, wenn sie ihre Ansprüche gegenüber den Staat aufzugeben, sich von überlieferten Besitzständen zu lösen bereit wären, dann – und einzig dann – hätte das Land noch eine Chance, in der harten Wirklichkeit der hochmobilen Wissensgesellschaften zu überleben. So lautete das Mantra von unzähligen Forschern – den Hütern des Faktischen – der ökonomischen Wissenschaften.
Insofern war und ist die »Wirklichkeit« ein außerordentlich legitimitätsheischender Begriff für straffe Marktreformer. Denn wer sich auf die »Wirklichkeit« beruft, reklamiert für sich die unleugbaren Fakten, die unstrittige Empirie, ja: Wahrheit. Selber ist man nüchterner Realist, der andere aber – der die »Wirklichkeit« partout nicht sehen will – lebt demgegenüber in einer Welt von Illusionen. Die »Wirklichkeit« und das »Faktische« haben etwas Gebieterisches; sie verlangen folgsame Anerkennung, eröffnen keinen Bedarf für Erörterung. Fakten muss man sich fügen. Sie setzen die Gegebenheiten, sie sind alternativlos und dadurch vernünftig, ja: zwingend.
Doch ist »die Wirklichkeit« natürlich eine höchst ambivalente Sache. Die Realität der einen entspricht keineswegs der Realität der anderen. Natürlich leben wir nicht in einer sozial und normativ unstrittigen »Realität«. Unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und unterschiedlichen Lebensgeschichten nehmen Wirklichkeit anders wahr. Wirklichkeit, auch Fakten werden durch Kommunikation und Normen konstruiert, dann subjektiv interpretiert und durch die Filter handfester Interessen zu einem Machtfaktor gerade in demokratischen Gesellschaften. Wer die Hegemonie über die Interpretation von »Wirklichkeit« und der »Faktenlage« innehat, besitzt einen Vorsprung in der geistig-politischen Auseinandersetzung. Die Deregulierung von Märkten, die Entstrukturierung von Institutionen, der Verzicht auf Zugriffe des Staates – all das war nie ungebrochen Folge von ökonomischen Handlungszwängen. All dies war Konsequenz von politischer bzw. wirtschaftswissenschaftlicher Deutungsmacht, von Einflüssen und Einflüsterungen gut organisierter und vernetzter Think Tanks.
Am Ende produzierte das (mindestens) zwei Wirklichkeiten in den vermarkteten Gesellschaften. Und natürlich hatte die erste, die neuliberale »Wirklichkeit«, die zweite, eine sozialbeschädigte »Wirklichkeit«, mit geformt. Die Antisozialstaatlichkeit der marktzentrierten Wirklichkeitsinterpreten hat nach zwei Jahrzehnten der Deutungshoheit nicht nur zu einer wünschenswerten Verflüssigung von verknöcherten Strukturen und zu einem löblichen Anstieg selbstverantwortlicher Individualität geführt, sondern in vielen Ländern auch zu einer Durchlöcherung sozialstaatlicher Normen – wie Fairness, Ausgleich, Integration, Verknüpfung, Zusammenhalt, Solidarität – und zu einer Destruktion sozialstaatlicher, klassenintegrierender Institutionen.
Die neue »Wirklichkeit« ist somit im Ergebnis tribalistischer als die alte wohlfahrtsstaatliche Vergangenheit. Die Entwicklung verläuft dabei keineswegs zu flacheren Hierarchien, sondern zu einer massiven Zentralisation von Entscheidungen und Macht. In Zeiten der dynamischen Beschleunigung von Informationsvermittlung, Datenübertragung, Finanztransfers etc. besteht, so wird bedeutet, die Zeit für ausführliche Diskussionen, für pluralismusorientierte Abwägungen nicht mehr. Eben das macht die nun dominante Interpretationsvariante von »Fakten« so bekömmlich für die Handlungslegitimation der Globalisierungsregisseure. Denn in dieser, ihrer »Wirklichkeit« ist nicht nur keine Zeit für das demokratische »Palaver« vor den Entscheidungen, sondern es gibt aus dieser Perspektive auch keinen Bedarf danach, da es sich dabei lediglich um den Vollzug von ökonomischen Sachzwängen, unabweislichen Notwendigkeiten, unzweifelhaften Alternativlosigkeiten handelt.
Natürlich kann es dann auch keine »Gegenwirklichkeiten« geben. Dabei war die Vorstellung von einer anderen, möglichen Wirklichkeit historisch stets Motor für oppositionelle Kräfte gegen blockierte, verkrustete, uniformierte, sozial verworfenen Gesellschaften. Aber im Zuge der Verabsolutierung von Gegebenheiten, die als einzig wirklich und alternativlos jeder strittigen Debatte und allen Gegenentwürfen entzogen werden sollten, kam auch »Opposition« in Verruf, besonders stark ebenfalls vor 15-20 Jahren. Opposition galt kaum mehr als grundlegendes Korrektiv, nicht als freiheitswahrende Kontrolle, nicht als Ort nützlicher eigensinniger Entwürfe, sondern als öde Abseitslage der Ineffizienz, leeren Betriebsamkeit, folgenlosen Antragsproduktion.
In dieser schleichend gewandelten politischen Kultur hatten es Parteien, welche die genuine Funktion der Opposition auszufüllen versuchten, plötzlich schwer. Es dauerte nicht lange, dann hing ihnen das Stigma der Regierungsunfähigkeit an. Das ließ etwa die Grünen sich eilfertig zu der Partei wandeln, die sie inzwischen geworden ist. Aber so fehlten dann politische Repräsentanzen für eine aus der Gesellschaft nicht verflüchtigten Erwartung, dass die Verhältnisse auch anders sein könnten bzw. sollten, dass Alternativen möglich und legitim sind, kurz: dass eine andere Wirklichkeit zu denken und anzustreben nicht verrückt oder unzulässig ist. In diese Erwartungs- und Repräsentanzvakua haben sich dadurch neue Formationen eingenistet, traurigerweise auch rigide Nationalegozentriker weit rechts der republikanischen Mitte. Aber ein solches Übel bekämpft man nicht mit dem Mittel, das – die Dogmatik der unveränderlichen »Wirklichkeiten« – die Maläse zumindest mit verursacht hat.
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Sein Beitrag erschien zuerst im Blog des Instituts.
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