Lohnfrage als Katalysator
Neue Phase der Arbeitsbeziehungen im Osten: zur gewerkschaftlichen Revitalisierung in den neuen Ländern
Sofern in den letzten beiden Jahrzehnten die Arbeitsbeziehungen in Ostdeutschland thematisch aufgegriffen wurden, erschien deren Entwicklung mitsamt ihren Perspektiven düster.
Als umso überraschender dürfen aktuelle Forschungsbefunde gelten, welche für die neuen Länder eine »Vitalisierung betrieblicher Mitbestimmung« und eine »Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht« reklamieren. Als starke Indizien gelten neben vermehrten Betriebsratsgründungen, eine Neubelebung bestehender Gremien, anhaltende Mitgliedergewinne und bislang unbekanntes tarifpolitisches Engagement von Belegschaften.
Robert Hinke ist Landesfachbereichsleiter für Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen bei ver.di in Bayern. Vor seiner hauptamtlichen Gewerkschaftstätigkeit war er als Arbeits-, Betriebs- und Industriesoziologe am Institut für Soziologie an der Friedrich Schiller Universität Jena tätig.
Wichtige Ergebnisse der Forschung zu den Gewerkschaften im Osten finden sich in folgenden Studien: Röbenack, S./Artus, I.: Betriebsräte im Aufbruch? Vitalisierung betrieblicher Mitbestimmung in Ostdeutschland. Frankfurt a.M. 2015. Goes, Th./Schmalz, S./Thiel, M./Dörre, K.: Gewerkschaften im Aufwind? Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht in Ostdeutschland. Frankfurt a.M. 2015. Kothe, W./Bernhardt, U./Heyme, R./Wiener, B.: Im Zeichen des Fachkräftemangels – neue Entwicklungen im Agieren vor allem jüngerer Arbeitnehmer speziell am ostdeutschen Arbeitsmarkt. Frankfurt a.M. 2016. Die drei Forschungsarbeiten können unter www.otto-brenner-shop.de abgerufen werden.
Robert Hinkes nebenstehend gekürzt dokumentierter Beitrag erschien in der Zeitschrift »Sozialismus«, deren aktuelle Ausgabe sich unter anderem mit dem Ausgang der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in Frankreich, der Türkei nach dem umstrittenen Referendum und dem Armutsbericht der Bundesregierung befasst. Mehr Informationen und Bezugsmöglichkeiten unter: sozialismus.de
Bereits seit einigen Jahren lassen sich Indizien eines schleichenden Wandels der Arbeitsbeziehungen »entdecken«, die insbesondere die betrieblichen Wettbewerbspakte in ihrer bisherigen Gestalt unterminieren. Zwischenzeitlich scheint sich ein Gelegenheitsfenster der Revitalisierung und Neufundierung der Gewerkschaften zu öffnen - die Arbeitsbeziehungen treten in Ostdeutschland in eine neue Phase.
Ausgehend vom Jahr 2004 kann man vor allem eine nachhaltige Trendwende am Arbeitsmarkt feststellen. Mit einer Arbeitslosenquote von 18,7 Prozent erreichte die Arbeitslosigkeit 2005 in den neuen Ländern ihr historisches Maximum, um sich in den Folgejahren bis 2015 annähernd zu halbieren. Angesichts einer aktuellen Quote von 8,6 Prozent ist die Arbeitslosigkeit - auch im Vergleich zu Westdeutschland (5,7 Prozent) - nach wie vor hoch, signalisiert aber keinen gesellschaftlichen »Ausnahmezustand« mehr. Zugleich entwickelte sich die Industrie, ausgehend von einem extrem niedrigen Niveau, zu einem der dynamischsten Bereiche der ostdeutschen Wirtschaft.
Für die Metall- und Elektroindustrie läuft dies bereits seit 1998 auf einen fortlaufenden, lediglich in den Jahren 2009 und 2010 von den Folgen der Weltwirtschaftskrise unterbrochenen Beschäftigungsaufbau hinaus. Angesichts des demografischen Wandels, überalterter Belegschaften und wachsenden Personalbedarfs besteht bereits seit einigen Jahren Fachkräftemangel bei Ingenieuren und einzelnen gewerblichen Berufen.
Der Wettbewerb um vorwiegend qualifiziertes Personal spielt sich vor allem in den Ballungszentren ab, während in der ökonomisch abgehängten Peripherie die Zeit stillzustehen scheint. Das »deutsche Beschäftigungswunder« vollzog sich insbesondere in den neuen Ländern jedoch über einen Anstieg prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Neben befristeten Arbeitsverhältnissen und aufgenötigter Teilzeit darf die Leiharbeit als ein besonderes Extrem gelten. Ein Viertel aller Leiharbeiter ist in den neuen Ländern tätig, etwa 51 Prozent hiervon im verarbeitenden Gewerbe.
Weiterhin gibt es unterschiedliche generationelle Lagen und Orientierungen, die Beschäftigte im unterschiedlichen Maße an der gewonnenen Marktmacht partizipieren lassen. Für die »ernüchterten Älteren«, derzeit 55-jährig und älter, dürfte die veränderte Arbeitsmarktlage nur bedingt Optionen eröffnen. Zudem bestehen angesichts ihrer regionalen Verwurzelung, familiärer Bindungen und nicht leichtsinnig aufs Spiel zu setzender innerbetrieblicher Positionen subjektive Mobilitätsbarrieren, die einen Transfer potenzieller in aktualisierter Marktmacht erschwert. Vielfach dürfte ein Ausharren bis zur Rente das Interessenkalkül bestimmen.
Die jüngere Generation der gut qualifizierten 25- bis 35-Jährigen hingegen darf zu den agilsten und aufgrund der wahrgenommenen arbeitgeberseitigen Nachfragesituation auch sehr selbstbewusst auftretenden Arbeitnehmern gezählt werden. Ihre Marktchancen, Ansprüche und Mobilitätsbereitschaft sind hoch, ihre Betriebs- und Regionsbindung eher gering. Vor diesem Hintergrund ist die Bereitschaft der Arbeitgeber, ihnen hinsichtlich der Arbeits- und Entgeltbedingungen entgegenzukommen, vergleichsweise stark ausgeprägt, wodurch es ihnen auch häufiger gelingt, individuell günstigere Konditionen auszuhandeln bzw. solche offeriert zu bekommen. Dieses Arbeitnehmersegment dürfte den geringsten Bedarf an kollektiven Strategien der Verbesserung ihrer Lage sehen, andererseits greifen die Disziplinierungseffekte des »Kontrollregimes der Prekarität« sehr viel weniger, was die gewerkschaftliche Ansprache wiederum erleichtert.
Zwischen diesen Generationskohorten finden sich die mittleren Jahrgänge der heute etwa 36- bis 54-Jährigen. Diese sammelten ihre »ersten beruflichen Erfahrungen in der Zeit der Transformation«. Viele von Ihnen konnten arbeitsmarktbedingt nicht Fuß fassen oder finden sich im Beschäftigtensegment der Leiharbeitnehmer bzw. fortwährend befristet Beschäftigter wieder - etliche suchten als Abwanderer oder Pendler im Westen ihr Auskommen.
Gewerkschaftlich ist diese »verlorene Generation« wohl am schwierigsten zu erreichen. Sie konnten sich nie den Stammbelegschaften zurechnen, sehen sich interessenpolitisch weitgehend ignoriert und sind hinsichtlich ihres Arbeitsverhältnisses außerordentlich »verwundbar«. Ungeachtet einer allgemein verbesserten Arbeitsmarktlage, bleibt deren Hoffnung eine konkrete: betriebliche Übernahme im jeweiligen Einsatzbetrieb. Ein offenes gewerkschaftliches Engagement zur Etablierung von Betriebsräten oder Tarifverträgen bleibt damit unwahrscheinlich.
Zu den mittleren Jahrgängen gehören aber auch Arbeitnehmer, denen es früh gelungen ist, in den Kreis der Stammbelegschaft aufgenommen zu werden bzw. in der »Rest«-Belegschaft zu verbleiben. In ihrem Arbeitsethos gleichen sie ihren älteren Kollegen, für die Michael Behr die Charakterisierung »Arbeitsspartaner« geprägt hat. Damit soll eine Arbeitsorientierung zum Ausdruck gebracht werden, die eigene Interessen zugunsten des Betriebes und Arbeitsplatzerhalts zurückstellt. Diese äußert sich, eingespannt in einem Überlebens- bzw. Wettbewerbspakt, der gleichsam im Gegenzug für Beschäftigungssicherheit und Zukunftsversprechen auf bessere Einkommens- und Arbeitsbedingungen unbeschränkte Leistungs- und Flexibilitätsbereitschaft abfordert, in interessenpolitischer Abstinenz und Gewerkschaftsferne. Gerade diese - betriebs- wie gewerkschaftspolitisch strategisch relevante - Beschäftigtengruppe muss allerdings am Kontrast betriebswirtschaftlicher Dynamik und stagnierender Einkommensentwicklung sowie ausbleibender Ost-West-Angleichungsschritte an der eigenen Arbeitshaltung (ver-)zweifeln.
Eine allgemein verbesserte Arbeitsmarktlage übersetzt sich folglich nicht umstandslos in eine Belebung organisierter Arbeitsbeziehungen. Um kollektives, solidarisches Handeln anzuregen, müssen weitere Faktoren eine Rolle spielen. Ferner ist zu klären, warum der beobachtete Aufschwung von Mitbestimmung und betrieblichen Tarifbewegungen vor allem einer der Metall- und Elektroindustrie ist.
Allenthalben wird eine öffentliche und politische Aufwertung der Gewerkschaften registriert, die mit der erfolgreichen sozialpartnerschaftlichen Bewältigung der bislang größten bundesdeutschen Wirtschaftskrise einsetzte. Die politische Resonanz und das Ansehen der Gewerkschaften ist in weiten Teilen der Bevölkerung seither gewachsen. Vor diesem Hintergrund konnten die Gewerkschaften auch wichtige politische Projekte wie die Einführung eines allgemeinen Mindestlohnes, die Rente mit 63 oder gesetzliche Regelungen zur Begrenzung von Leiharbeit durchsetzen.
Die Einführung des Mindestlohnes von 8,50 Euro zum 1. Januar 2015 verhalf ca. 930 000 Beschäftigten in Ostdeutschland zu Einkommenserhöhungen, womit etwa 14 Prozent aller Beschäftigten von dieser gesetzlichen Lohnuntergrenze profitierten (West: fünf Prozent). Insgesamt 10 Prozent der Beschäftigten des verarbeitenden Gewerbes erhielten dank des damals umstrittenen Gesetzes 2015 Lohnanhebungen auf 8,50 Euro/Stunde. Es ist davon auszugehen, dass sowohl die gesellschaftspolitische Debatte um den Niedriglohn und eine minimale Lohnsicherung als auch betrieblich erforderliche Lohnanpassungen (selbst oberhalb der Lohngrenze von 8,50 Euro) bei den Belegschaften große Resonanz fanden - keineswegs nur bei Betroffenen.
Das Gefühl vorenthaltener Vergütung, der Übervorteilung und Ausbeutung dürfte sich bei vielen verstärkt und zur Einsicht in den Bedarf starker Arbeitnehmervertretungen beigetragen haben. Die Bezugnahme betrieblich Aktiver auf tarifierte regionale Leuchttürme sowie erfolgreiche gewerkschaftliche Organisierungsprozesse, Betriebsratsgründungen und verbesserte Arbeits- und Einkommensbedingungen in Nachbarbetrieben, womöglich vormaligen Kombinats- oder outgesourcten Teilbetrieben, erklärt die relative Gründungsdynamik von Betriebsräten und deren Belebungen sowie die Zunahme an Haustarifverhandlungen in industriellen Ballungszentren. Es sind vor allem »Spill-over-Effekte[n]« im räumlichen Umfeld der Betriebe, die in Belegschaften mit »Veränderungswillen« auf fruchtbaren Boden fallen und »enorm motivierend und ermutigend« wirken.
Aber auch Krisenereignisse (Übernahme, Verkauf, Geschäftsführerwechsel), unternehmensinterne Ost-West-Vergleiche, Arbeitserfahrungen in westdeutschen Betrieben oder die Orientierung am Flächentarifvertrag können Arbeitnehmer dazu bewegen, Kontakt zur Gewerkschaft zu suchen. Vielfach verknüpft sich die Forderung nach »gerechten Löhnen« mit anderen Themen, wobei den »hohen Flexibilitätsanforderungen und überlangen Arbeitszeiten« sowie der Führungskultur besondere Relevanz zukommt.
Es sind daher auch nicht zufällig die mittleren Jahrgänge, die sich von regionalen oder konzerneigenen Vorbildern motivieren lassen, die betrieblichen Verhältnisse zu verändern. Sie haben noch ein halbes Arbeitsleben vor sich und sind weder willens noch gesundheitlich dauerhaft in der Lage, »unter solchen Bedingungen zu arbeiten«. Ihre betriebliche Verankerung, geteilte Betriebserfahrung, berufliche Anerkennung und kommunikative Kompetenz rückt diese in die Protagonistenrolle und ermöglicht ihnen eine vermittelnde »Scharnierfunktion« zwischen den Generationen.
Zu ihren »wichtigsten Unterstützer[n]« gehören jüngere Kollegen. Im Unterschied zu den mittleren und älteren Belegschaftsangehörigen leben die jüngeren im »Hier und Jetzt«. Sie haben keine kombinatsbetriebs- noch unmittelbare Arbeitserfahrungen während der Transformationskrise gemacht, ihre Identifikation mit dem Betrieb ist eher gering und ihr Selbstbewusstsein hoch. »Sie wollen höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, und sie wollen das alles möglichst rasch«.
Ältere Beschäftigte werden arbeitgeberseitig häufig gegen Aktivenkreise in Stellung gebracht, was aber vor dem Hintergrund der brüchigen oder verflüchtigten Wettbewerbspakte und veränderten Belegschaftszusammensetzungen immer weniger zu gelingen scheint.
Abschließend sei vermerkt, dass die Lohnfrage zum »Katalysator gewerkschaftlicher Organisierung« wird. »Teilweise sind Betriebsratsgründungen lediglich ein Vehikel für die eigentlich beabsichtigte Tarifierung. Das Hauptmotiv für Bewegung im Betrieb ist zunächst nicht, eine eigene Interessenvertretung zu wählen. Vielmehr gibt das Interesse an höheren Löhnen und verbesserten Arbeitszeitregelungen den Ausschlag.«
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