Die Liebe und die Revolution
Dirk Kurbjuweit erzählt von der unbeugsamen Republikanerin Emma Herwegh, die vor 200 Jahren geboren wurde
Frank Wedekind, fasziniert von ihrem Charme und ihren Berichten, kam immer wieder. »Die Alte empfängt mich mit ungeheuchelter Freude«, notierte er am 3. Januar 1894 im Tagebuch. Die Alte, der er sein neues Drama brachte, damit sie die französischen Passagen korrigiere, war Emma Herwegh, die Witwe des einst berühmten, umjubelten, dann geschmähten und inzwischen vergessenen Dichters Georg Herwegh. Sie war, seit 1875 verwitwet, nun sechsundsiebzig Jahre alt, lebte in einer ärmlichen Wohnung im Pariser Quartier Latin und holte jedes Mal, wenn der junge Dichter sie besuchte, alles hervor, was an den Freiheitssänger und später verlachten Revolutionär erinnerte. Sie erzählte von Marx, Heine und Bakunin, den Gefährten des Exils, und Wedekind, beeindruckt von ihr, der unbeugsamen Republikanerin, setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um für beide, Emma und Georg, etwas zu tun. Er schaffte es, dass Herwegh wieder gedruckt wurde und dass auch Emmas Schrift über den Feldzug zur Rettung der badischen Revolution von 1848, versteckt in einem Band mit Briefen ihres Mannes, nicht länger unbekannt blieb. Ihm war es schließlich auch zu verdanken, dass 1909 endlich eine Werkausgabe Herweghs erschien, die erste und auch die vollständigste, die es bis heute gibt. Aber da war Emma schon fünf Jahre tot.
Frank Wedekind ist bei Dirk Kurbjuweit Benjamin Franklin, weil Emma darauf besteht, ihren Gast mit seinem ursprünglichen Namen anzusprechen. Der Tag ist schon weit vorangeschritten, wenn er bei der alten Dame erscheint und sich ihre Geschichte anhört, eine Geschichte voller Aufruhr, Turbulenzen, Irritationen und Zumutungen, die der »Spiegel«-Journalist Kurbjuweit jetzt auf drei Zeitebenen und in neun fesselnden, furios erzählten Episoden seines Romans »Die Freiheit der Emma Herwegh« gebündelt hat. Im Zentrum ein Geschöpf, das im 19. Jahrhundert zu den großen Ausnahmen zählte, geboren am 10. Mai 1817 als Tochter eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns in Berlin und aufgewachsen in einer Welt, die im Überfluss lebte. Eine noble Villa im Tiergarten, Gäste, Visiten, Bälle, Reisen, Musik, Theater, Konzerte. Vom Feinsten auch die Lehrer, die für Emma engagiert wurden. Ein braves, sittsames Töchterchen ist sie aber nicht geworden. Sie fiel beizeiten aus der vorgeschriebenen Rolle. Kleidete sich gern wie ein Bursche, widersetzte sich den Regeln, ritt, schoss und rauchte wie ein Kerl, las die Bücher der ebenso unangepassten George Sand, begeisterte sich für französische Revolutionsgeschichte und den polnischen Freiheitskampf, träumte sogar ein bisschen vom Tyrannenmord und hatte für die Männer, die ihren Weg kreuzten, nichts als Verachtung übrig. Nannte sie Beamtenseelen, Schufte, Philister, Schöngeister, Windbeutel, Esel, Höflinge, Speichellecker.
Georg Herwegh war die Ausnahme. Er war einer, den sie schon liebte, als sie ihn noch gar nicht kannte, aber was machte das schon? Sie hatte ja sein Büchlein, die »Gedichte eines Lebendigen«, diese rebellischen Lieder, in denen hell das Feuer der Revolution loderte. Ende 1841 hatte sie das Bändchen zum ersten Mal aufgeschlagen und fiebernd gelesen, hingerissen vom Aufruhr, der in den Versen tobte. Endlich ein Mann, zu dem sie aufblicken konnte, ein Mann der Barrikade, feurig und unverzagt, ein Schwärmer, der von Bastille-Tagen träumte, für sie »einer der freiesten Menschen der Welt«. Am 6. November 1842, als er, in ganz Deutschland für seine Gedichte gefeiert, bei einem Berlin-Aufenthalt auch ins Haus ihres Vaters kam, lernte sie ihn kennen. Am 8. März 1843 wurde geheiratet, und alles, was sie danach tat, tat sie für ihn.
Emma hielt Herwegh für ein Genie und verzieh ihm alles, sogar die Affären. Er betrog sie mit Marie d’Agoult, die vorher die Geliebte von Franz Liszt gewesen war, und ließ sie später mit den Kindern sitzen, um Natalie, der schönen Frau Alexander Herzens, zu folgen. Kurbjuweit zeigt sich, wenn er von dieser rauschhaften Beziehung erzählt, die mit einem Riesenskandal endete und damals in ganz Europa beredet wurde, in Hochform. Er beschreibt mit Lust das Auf und Ab der Gefühle, die Eifersucht, die Qualen, die Ängste, Rasereien und Herzens wuchernde Rachegelüste, all die Wirrnisse einer entfesselten Leidenschaft. Und mitten in diesem Chaos, diesem Karneval der Liebe, Emma, die Hintergangene, die nicht Opfer sein will, die ihre Würde bewahrt, die auch jetzt, unfassbar großmütig, an ihrem Georg festhält, noch seine Liebesbriefe befördert, immer in Sorge um ihn, den Einzigen, den Herold und Schutzbedürftigen, eine Leidende, die den Kopf nicht verliert, stets Herrin über sich selbst. Nie kommt sie auf den Gedanken, sich zu trennen. Eine kurze Affäre mit dem italienischen Revolutionär Orsini ist das Einzige, was sie sich gestattet. Geändert hat das nichts, weder am Kampf für ihr Glück, das Georg heißt, noch an ihrem unbedingten Freiheitswillen, der ihr im Frühjahr 1848 das Äußerste an Mut und Kraft abverlangt.
Natürlich war sie mit von der Partie, als der Dichter mit einer achthundert Mann starken »deutschen demokratischen Legion« von Paris aus der badischen Revolution zu Hilfe kommen wollte. Auch da demonstrierte sie, einzige Frau unter den Legionären, ihre Courage, ihre Besonnenheit, ihre Tapferkeit. Sie marschierte forsch in der ersten Reihe, scheinbar unbeeindruckt von Kälte, Wind und Regen, und als die Männer schon erschöpft aufgeben wollten, übernahm sie entschlossen das Kommando und brachte sie mit einer furiosen Rede dazu, das Unternehmen fortzusetzen. Doch bevor die Truppe etwas ausrichten konnte, war sie schon zerrieben, und nur mit Mühe konnten Emma und Georg Herwegh den Häschern entkommen.
Kurbjuweit gelingt ein schönes, packendes Bild dieser beherzten Frau, die nie schwankt, nie resigniert. Sie war stark noch in den Jahren bitterer Armut, als das Ehepaar im Pariser Exil gezwungen war, sogar die Bibliothek des Dichters zu verkaufen, an Festigkeit kaum zu übertreffen. Eine Biografie von Barbara Rettenmund und Jeannette Voirol sowie Michael Krausnicks »Marbacher Magazin« haben vor Jahren Pionierarbeit geleistet und Emma Herwegh, die bis zuletzt nichts bereute, nichts widerrief (und 1904 starb), endlich aus dem Dunkel der Geschichte geholt. Nun gibt es dazu, zweihundert Jahre nach ihrer Geburt, diesen Roman, eine souverän entworfene, suggestive Erzählung, das Eindrucksvollste, was man über sie und ihre Welt lesen kann.
Dirk Kurbjuweit: Die Freiheit der Emma Herwegh. Roman. Carl Hanser Verlag, 334 S., geb., 23 €.
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