Vorwurf: Versuchter Mord
Sieben junge Geflüchtete stehen seit Dienstag wegen Angriff auf Obdachlosen in Berlin vor Gericht
War es Leichtsinn oder Langeweile? Versuchter Mord oder ein dummer Streich, dessen mögliche Konsequenzen nicht durchdacht wurden? Sieben Jungen und junge Männer von 16 bis 21 Jahren stehen seit Dienstag vor Gericht, weil sie »billigend in Kauf genommen« haben sollen, so Staatsanwalt Martin Glage, dass ein obdachloser Mann verbrennt.
Es war kurz nach 2 Uhr morgens, Weihnachten, die Nacht vom 24. auf den 25. Dezember. Am U-Bahnhof Schönleinstraße soll einer der jungen Männer, die seit Dienstag auf der Anklagebank sitzen, ein Stück Papier angezündet und es in Richtung eines auf einer Bank schlafenden Mannes geworfen haben, wo es in unmittelbarer Nähe seines Kopfes landete. So berichteten Medien wenige Tage später in Berufung auf Bilder der Überwachungskameras. Das Feuer griff der Anklage zufolge auf den Rucksack und eine Plastiktüte über, die dem Mann als Kissen dienten. Fünf der anderen jungen Männer sollen zugesehen und Schmiere gestanden haben. Allen sechs wirft die Staatsanwaltschaft versuchten Mord vor. Heimtückisch und grausam hätten sie gehandelt. Als sie den U-Bahnhof verließen, hätten sie billigend in Kauf genommen, dass der Mann verbrennt und stirbt. Der siebte junge Mann soll abseits gestanden haben. Ihm wirft die Staatsanwaltschaft unterlassene Hilfeleistung vor. Er sitzt als einziger nicht mehr in Untersuchungshaft.
Die Aussagen der vier Jugendlichen bei der Polizei sind der Richterin zufolge vor Gericht nicht verwertbar. Die Polizei habe sie nicht ausreichend über ihre Rechte aufgeklärt.
Der Prozess beginnt wie üblich mit der Aufnahme der Personalien der Angeklagten. Viele beantworten die Fragen der Richterin auf Deutsch. Ungewöhnlich ist, dass von sieben Angeklagten vier ungenaue Angaben über die einfachsten Fakten machen. Einer irrt sich mit seinem Geburtsdatum und erinnert sich nicht an den Namen der Straße, in der er im Haus seiner Tante lebte, bis er Ende Dezember in Untersuchungshaft kam. Der nächste sagt, er sei am 25. Dezember festgenommen worden, obwohl – so korrigiert ihn die Richterin – es der 26. war. Der dritte meint, er sei »ungefähr« am 26. Dezember festgenommen worden. Ein weiterer nennt eine falsche Hausnummer seiner Unterkunft in Lichtenberg.
Richtig in Schwung kommt der Prozess am Vormittag nicht. Der Staatsanwalt kann gerade zwei Sätze der Anklageschrift verlesen, da unterbricht ihn einer der Anwälte. Er bittet darum, den anwesenden Eltern seines minderjährigen Mandanten Kopfhörer für die Übersetzung zu gewähren. Das lehnt Richterin Regina Alex ab, einer der anderen Anwälte beantragt, die Sitzung zu unterbrechen. Nach der Pause erhalten die Eltern die notwendigen Geräte. Keine Kopfhörer bekommt weiterhin der Vater des Hauptangeklagten Nour N., da dieser schon volljährig ist, der Vater also nicht mehr sein gesetzlicher Vertreter.
Wenig später wird die Sitzung erneut unterbrochen. Ein Anwalt zweifelt die Zuständigkeit der Jugendstrafkammer an, die den Fall behandelt. Außerdem hält er es für »gravierend rechtsfehlerhaft«, dass eine der Schöffinnen aufgrund ihres Urlaubsantrags ausgetauscht wurde.
Bisher sind acht Verhandlungstage angesetzt. Anwalt Wendt zufolge will sich Nour N. am zweiten Prozesstag am 12. Mai zum Tathergang äußern. Dessen Mutter sagt in einer Pause mit Hilfe eines Übersetzers: »Ich hätte nie gedacht, dass mein Sohn so etwas macht.« Zusätzlich irritiere sie, dass ein wehrloser Obdachloser das Opfer war. Die Jungen seien keine engen Freunde gewesen, sie hätten sich erst kurz zuvor kennengelernt.
Alle sieben sollen zwischen 2014 und 2016 als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sein, fünf als alleinreisende Minderjährige. Der 21-jährige Hauptverdächtige kommt aus Syrien. Auch die übrigen Verdächtigen stammen aus Syrien, einer aus Libyen. Ihnen droht dem Staatsanwalt zufolge eine Haft bis zu zehn Jahren. In einer Prozesspause sagt Glage zu Journalisten, an Weihnachten sei nicht viel los, die meisten Geschäfte seien geschlossen gewesen. Die jungen Menschen hätten sich wohl gelangweilt und seien »auf dumme Gedanken« gekommen.
Anwalt Alexander Wendt sagt, sein Mandant Nour N., räume die Tat ein. Aber: »Der Mordversuchsvorwurf ist nicht eindeutig.« Es sei außerdem eine Unterstellung, dass es seinem Mandanten gleichgültig gewesen sei, ob der Obdachlose verbrenne. N. sei leichtsinnig gewesen, habe damit aber noch lange nicht »billigend in Kauf genommen«, dass der Mann sterben könnte. »Man sollte hier zurückhaltend sein«, sagt Wendt. Die bisherige Berichterstattung zum Fall habe »verheerende Schlaglichter« auf junge Flüchtlinge geworfen. Tatsächlich hatte die Tat deutschlandweit Entsetzen ausgelöst und eine Debatte über die Bedingungen junger Geflüchteter in Deutschland in Gang gebracht.
Der Obdachlose kam ohne Verletzungen davon. Kurz nach der Tat fuhr eine U-Bahn am Gleis ein. Fahrgäste löschten das Feuer und retteten den Mann. Die Staatsanwaltschaft sieht es anders als die Verteidiger der Angeklagten als erwiesen an, dass das Feuer ansonsten auf den Obdachlosen übergegangen wäre und ihn möglicherweise getötet hätte.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.