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Staatsräson begründet Ausweisungen von vier jungen Aktivisten

Vier junge Aktivisten sollen ausgewiesen werden – wegen Ermittlungen nach propalästinensischen Protesten

Polizisten nehmen auf einer propalästinensischen Demonstration eine Person fest.
Polizisten nehmen auf einer propalästinensischen Demonstration eine Person fest.

Die Berliner Ausländerbehörde beabsichtigt, vier junge Aktivist*innen auszuweisen, gegen die wegen strafrechtlicher Vorwürfe im Rahmen ihrer Teilnahme an propalästinensischen Protesten ermittelt wird. Das berichtet der Journalist Hanno Hauenstein im investigativen Internetmagazin »The Intercept«. Von einem Gericht verurteilt wurde allerdings keine*r der Betroffenen. Dennoch wurden sie aufgefordert, Deutschland bis zum 21. April zu verlassen. Sie sollen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung sein.

Die Vier haben unterschiedliche Staatsangehörigkeiten. Cooper Longbottom hat die US-amerikanische, Kasia Wlaszczyk die polnische Staatsangehörigkeit. Shane O’Brien und Roberta Murray sind irische Staatsbürger*innen.

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Den Betroffenen werden unterschiedliche strafrechtliche Vorwürfe gemacht, die sich jedoch alle auf propalästinensische Proteste beziehen. Wie »The Intercept« berichtet, geht es unter anderem um ein »Sit-in« im Berliner Hauptbahnhof, eine Straßenblockade und um die angebliche Verwendung der Parole »From The River To The Sea«. Ende 2023 hatte das Bundesinnenministerium gleichzeitig die islamistische Hamas und das Gefangenennetzwerk Samidoun verboten. Im Zuge dessen erklärte das Ministerium die Parole zum Symbol beider Vereinigungen. Eine höchstrichterliche Entscheidung über die strafrechtliche Einordnung der Parole steht noch aus.

Die einzige Verbindung laut »The Intercept« zwischen allen vier: Ihnen wird vorgeworfen, im Oktober 2024 an der Besetzung eines Verwaltungsgebäudes der Freien Universität Berlin teilgenommen zu haben. Bei dieser kam es zu Sachbeschädigungen sowie zu Farbschmierereien an den Innenwänden, die den vier allerdings nicht konkret vorgeworfen werden. In den Ausweisungsbescheiden werde der Verdacht zitiert, dass sie an einer koordinierten Aktion teilgenommen hätten. In drei Bescheiden soll, um die Ausweisungen zu rechtfertigen zudem herangezogen worden sein, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei.

Neben konkreten Vorwürfen werden ihnen laut »The Intercept« auch nicht genauer spezifizierte Vorhaltungen gemacht. So sollen sie etwa nicht näher genannte antisemitische und antiisraelische Parolen gerufen haben. Auch werde in allen vier Bescheiden der Vorwurf geäußert, die Betroffenen würden die Hamas unterstützen – ohne Belege. In drei Bescheiden soll zudem, herangezogen worden sein, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei, um die Ausweisungen zu rechtfertigen.

Die Ausweisungen erfolgen auf Anweisung der Senatsverwaltung für Inneres – und entgegen Bedenken der Berliner Ausländerbehörde (LEA). In einer E-Mail, die »nd« vorliegt, schreibt die Leiterin der LEA-Abteilung für »Kriminalitätsbekämpfung und Rückführung«, man könne der Anweisung »aus Rechtsgründen« nicht nachkommen. Zu dieser Einschätzung sei die Abteilungsleiterin laut E-Mail in Abstimmung mit dem Behördenleiter Engelhard Mazanke gekommen.

Die rechtlichen Bedenken rühren unter anderem daher, dass drei der Betroffenen EU-Bürger sind, die eigentlich Freizügigkeitsrecht genießen, sich also innerhalb der EU frei bewegen können. Dem Entzug dieser Freizügigkeit sind enge Grenzen gesetzt. Wie die LEA in der E-Mail ausführt, dürften nur »im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen« berücksichtigt werden. Auch wenn die betreffenden Personen laut Berichten des Landeskriminalamtes »ohne Zweifel eine Gefahr für die öffentlich Ordnung« darstellten, fehle es an rechtskräftigen Verurteilungen, die eine entsprechende Gefährdung begründen würden.

Die Innenverwaltung teilt diese Rechtsauffassung nicht. Auf eine strafrechtliche Verurteilung komme es nicht an, antwortet die Innenverwaltung und weist das LEA an, das Verfahren fortzusetzen. »Ein entsprechendes Klageverfahren ist gegebenenfalls in Kauf zu nehmen«, heißt es weiter.

»Ungezügelte Polizeigewalt geht Hand in Hand mit der repressiven Anwendung von Einwanderungsgesetzen.«

Von Ausweisung bedrohte Studierende

»Ich halte das Vorgehen für rechtswidrig«, sagt Rechtsanwalt Alexander Gorski, der zwei der Betroffenen vertritt, zu »nd«. Grundsätzlich sei es möglich, jemanden auch ohne strafrechtliche Verurteilung auszuweisen, aber die Hürden dafür seien sehr hoch. »Die Voraussetzungen dafür sind hier nicht gegeben.« Die Bescheide seien klar politisch motiviert, so Gorski. Neben den nicht belegten Vorwürfen, die Betroffenen würden Antisemitismus verbreiten und die Hamas unterstützen, stört den Anwalt, dass der Begriff Staatsräson ins Feld geführt wird – was ihm aus keinem anderen Fall bekannt sei. »Das ist ein nicht rechtlicher Begriff, der in einem rechtlichen Bescheid einfach nichts zu suchen hat.«

»Unsere Ausweisungen sind ein politscher Akt«, schreiben die Betroffenen in einer gemeinsamen Presseerklärung, die »nd« vorliegt. Die Ausweisungen seien ein Versuch, eine ganze Bewegung einzuschüchtern. »Ungezügelte Polizeigewalt geht Hand in Hand mit der repressiven Anwendung von Einwanderungsgesetzen, um propalästinensische Stimmen und politische Opposition zum Schweigen zu bringen.« Willkürliche Verhaftungen, verbunden mit falschen Vorwürfen, würden als Vorwand benutzt, um Abschiebemaßnahmen zu rechtfertigen, so die Studierenden weiter.

Sollte es bei den Ausweisungen bleiben, hätte Cooper Longbottom die schwerwiegendsten Konsequenzen zu befürchten. Longbottom müsste nicht nur in die USA ausreisen, sondern wäre mit einem zweijährigen Einreiseverbot für die EU konfrontiert. »Als Trans-Person fühlt sich die Vorstellung, in die USA zurückzukehren, im Moment wirklich beängstigend an«, sagt Longbottom »The Intercept«.

»Wenn das durchgeht, würde mich das aus der Gemeinschaft, die ich hier aufgebaut habe, herausreißen«, sagt Kasia Wlaszczyk zu dem US-amerikanischen Medium. Auch Wlaszczyk ist trans und müsste nach Polen ausreisen – ein Land, in dem er zuletzt vor 25 Jahren gelebt hat.

Wie Alexander Gorski erklärt, hat er in den Fällen, die er betreut, sowohl Klage eingereicht als auch Eilanträge gestellt. Das Verwaltungsgericht werde zeitnah über die Eilanträge entscheiden. Laut der gemeinsamen Presseerklärung der Betroffenen sind alle vier bereit, die Bescheide juristisch anzufechten.

Mittlerweile wird Kritik an dem Vorgehen der Berliner Behörden laut. Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) fordert die sofortige Aufhebung der Bescheide. »Das Aufenthaltsrecht kann und darf kein Mittel staatlicher Repression sein, erst recht nicht gegen politischen Aktivismus«, erklärt RAV-Vorsitzender Lukas Theune. Für den Entzug der Freizügigkeit von Unionsbürger*innen fordere die Rechtsprechung eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. »Das Migrationsrecht darf nicht dafür benutzt werden, nicht-deutsche Menschen zu bestrafen, wenn sie ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nutzen«, erklärt Theune weiter.

»Der Entzug des Aufenthaltsrecht bevor ein Gericht ein Urteil gesprochen und die individuelle Schuld festgestellt hat – das lässt einen an die autoritäre Symbolpolitik denken, wie wir sie derzeit in den USA erleben«, dagt der innenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Niklas Schrader. Wenn sogar über Bedenken des Leiters des Landesamts für Einwanderung hinweggegangen werde, scheinen politische Motive juristische Abwägungen zu dominieren, so Schrader weiter. »Es ist erschreckend, wie schnell Freiheitsrechte geopfert werden, wenn politische Exempel statuiert werden sollen.«

Hinweis: Ursprünglich hieß es im Text, dass es sich um vier Studierende handelt. Allerdings sind nicht alle der von Ausweisung Bedrohten Studierende. Wir haben diesen Fehler korrigiert.

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