Neo-Biedermeier

Leo Fischer über Menschen, die abends privat den Planeten retten, ihn am Tage aber beruflich zerschreddern

Bei manchen Anekdoten wünscht man sich, sie erfunden zu haben, so klischeehaft klingen sie. Im Bahnabteil begegnete ich kürzlich einer jungen Familie; die Kinder wohlgeraten und aufgeweckt, die Eltern locker drauf und entspannt im Umgang mit der Brut. Seit Berlin hocken sie hier im Abteil, zu den Großeltern bei Stuttgart soll es gehen, und eigentlich seien ihre Nerven ziemlich am Ende, teilen sie im Gespräch mit; dennoch reicht es dazu, Sohn und Tochter Apfelschnitze zu bereiten, beim Ausmalen von Tierskizzen zu helfen und mit den Mitfahrenden zu plaudern. Sie tragen geschmackvolle, legere Freizeitkleidung; es könnten Lehrer sein oder Grafikdesigner, sympathische Ökospießer jedenfalls, aufgeklärt und nett, sich selbst nicht ganz so ernst nehmend in ihrer Aufgeklärtheit. Trotz stundenlanger Fahrt gibt es seitens der Kinder kein Plärren und kein Schmollen, die Geschwister disziplinieren sich vielmehr gegenseitig, halten einander zur Ruhe an. Kurz und gut, hier machen Leute alles richtig, so muss das gehen; hier wurden zahllose Erziehungsratgeber gewälzt, gute Ratschläge eingeholt und die richtigen Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt getroffen.

Dann jedoch, das eine Kind schläft, das andere hört ein Hörbuch, verkündet der Paterfamilias, sich nun wieder ein wenig den Geschäften widmen zu wollen. Er zückt sein Handy sowie je eine Ausgabe des »Harvard Business Insider« und des »Business Punk« und fängt an, in ekelhaftestem Marketingdeutsch seine Abteilung kleinzusparen. Es ist nicht ganz eindeutig, was genau seine Berufsbezeichnung ist, aber es hat etwas mit Personal und Kosten zu tun, und es wird völlig klar: Dieser Mann schikaniert hauptberuflich andere Menschen, lebt von Existenzängsten und abgezwungenen Überstunden. Während seine Kinder im Wolkenreich feinster Antiautorität schlummern, macht er die Welt gerade ein bisschen gemeiner, härter, böser; im entspannten Tonfall desjenigen, der den gröbsten Zwängen schon entflohen ist.

Undenkbar, dass er plant, seinen Nachkommen eine sorglose Kindheit zu bereiten, um sie damit irgendwie auf den kochenden Stahltiegel des Arbeitslebens vorzubereiten, den er selbst noch mit anheizt. Vielleicht glaubt er, der Karriere seiner Kinder so viel Schwung und Anschub zu geben, dass sie nie das Leben führen müssen, das ihr Vater anderen bereitet. Sieht man sich die Entwicklung der Mittelschicht in den letzten Jahren an, ist diese Hoffnung bestenfalls naiv zu nennen. Wenn man nicht schon qua Geburt der Klasse der Superreichen angehört, ist die Chance, den Lebensstil seiner Eltern fortführen zu können, in jüngster Zeit wieder deutlich geringer geworden. Man will sich kaum ausmalen, welche Kompromisse der Familienvater gemacht, welche Schweinereien er bewusst übersehen hat, um Tochter und Sohn ein Leben zu ermöglichen, das sie aus eigener Kraft wohl niemals werden führen können.

Es ist natürlich billig, die Moral des biologischen Konsumenten und des nachhaltigen Lebensstils zu attackieren - jeder soll doch das Leben führen, das er will, und wer möchte dem anderen schon verübeln, ein gutes Gewissen zu haben? Schlechter wird die Welt auf jeden Fall nicht, wenn die Konsumenten ihre begrenzte Macht einsetzen, die Produzenten ethisch in die Verantwortung zu nehmen. Doch ist es schon erstaunlich, wie sehr die Moralität insgesamt ins Private eingewandert ist: Während man der Familie nach Feierabend ein Leben ohne Angst und Widerstände bietet und den Planeten im Supermarkt rettet, zerschreddert man ihn tagsüber, stößt ihn sozial und ökologisch noch einen Millimeter weiter Richtung Hölle.

Gerne bezeichnet man das aktuelle Zeitalter als Neo-Biedermeier, was auch zutrifft, beschränkt man den Begriff auf einen Rückzug ins Private. Doch die Zeitgenossen des historischen Biedermeier waren immerhin nur Untertanen, die sich ins erzwungene Schweigen schickten und Blumenbilder malten, statt Bajonette gegen die Paläste zu richten. Die jetzigen Biedermeier dagegen sitzen mit in den Palastkanzleien, verwalten die Unterdrückung und spekulieren darauf, ihren Clan dort zu halten, wenn sie Blumenbilder ins iPad malen. Die historischen Biedermeier versuchten auch nicht, sich durch Charity-Spenden und organische Produktion von ihrer Mitschuld freizukaufen. Sie hatten ihre irren Despoten wenigstens nicht gewählt, sondern waren ihnen ausgeliefert. Die Generation, die da heranwächst in Zugabteilen zwischen Berlin und Stuttgart, ist jedenfalls zu bedauern.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -