Abweichungen nach unten

Koalition will Unternehmen Chance eröffnen, in Absprache mit Gewerkschaften Mindestruhezeiten zu unterlaufen

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Bundesregierung hält Kurs bei der Deregulierung der Arbeitswelt. Das am 1. April in Kraft getretene Gesetz zur Arbeitnehmerüberlassung (AÜG) sieht vor, dass Tarifparteien von den gesetzlichen Mindeststandards nach unten abweichen dürfen. In dieser Legislaturperiode könnte ein weiteres »tarifdispositives« Gesetz verabschiedet werden, laut dem sich Arbeitgeber und Gewerkschaften »einvernehmlich« auf Ausnahmen bei den gesetzlichen Mindestruhezeiten verständigen können.

Bei Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hört sich das etwas anders an. »Wir haben klare Strukturen geschaffen und einen wichtigen Schritt getan, um Lohndumping in Betrieben Einhalt zu gebieten«, heißt es auf ihrer Website zum neuen AÜG. Bis zuletzt habe man »hart um die Details mit der CDU/CSU gerungen«. Die wichtigste Neuerung liege bei der Einführung von gleicher Bezahlung nach neun Monaten. Ein weiterer wichtiger Baustein des Gesetzes sei die Einführung einer Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten. Nach dieser Zeit müssten Leiharbeitnehmer vom Entleihbetrieb übernommen werden. Dies sei eine »Stärkung der Tarifautonomie«.

Auch SPD-Chef und Kanzlerkandidat Martin Schulz fand lobende Worte für das Gesetz. »Wo es Tarifverträge gibt, haben die Beschäftigten bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Andrea Nahles hat erfolgreich die Weichen für Tarifbindung gestellt: mehr Flexibilität nur in tarifgebundenen Betrieben«, erklärte er auf der SPD-Arbeitnehmerkonferenz am 20. Februar in Bielefeld.

Besagte »Stärkung der Tarifautonomie« bedeutet in diesem Fall vor allem, dass die Tarifparteien die Möglichkeit haben, die Entleihdauer auf bis zu fünf Jahre zu verlängern. Weitere Öffnungsklauseln gelten für sogenannte sachgrundlose Befristungen und den Anspruch auf gleiche Bezahlung.

Sechs Wochen nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen zur Arbeitnehmerüberlassung - also Leih- und Zeitarbeit - schrillen allmählich die Alarmglocken. Ausgerechnet der großen IG Metall war es vorbehalten, die »Spielräume« des neuen Gesetzes weitgehend auszuschöpfen. Sie vereinbarte im Flächentarifvertrag eine Entleihdauer von bis zu 48 Monaten. Damit dürfte schon jetzt besiegelt sein, dass das neue Gesetz kaum etwas zur Verbesserung der Situation von Leiharbeitern und zur Überwindung von Zwei-Klassen-Belegschaften in vielen Branchen beitragen wird. Und wer die Tarifpolitik einiger Gewerkschaften in den vergangenen Jahren verfolgt hat, kann sich über diese Vereinbarung kaum wundern, denn die Interessen der Stammbelegschaften haben nicht nur bei der IG Metall stets Vorrang vor dem Schutz aller in der jeweiligen Branche Beschäftigten.

Dabei hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) eigentlich eine klare Position, die aber nicht bindend für Einzelgewerkschaften ist. »Tarifwerke dürfen kein Instrument zur Unterschreitung gesetzlicher Mindeststandards sein. Dies gilt insbesondere bei gesetzlichen Schutzvorschriften, bei denen die Gefahr besteht, dass ihrer jeweiligen Schutzfunktion nicht mehr Rechnung getragen wird«, heißt es in einem Positionspapier vom 28. Februar.

Auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di beharrt auf gesetzlichen Mindeststandards. Man werde keine Tarifverträge abschließen, die diese unterlaufen, erklärte eine Sprecherin kürzlich auf Nachfrage des »nd«. Vielmehr werde man die Forderung nach gleicher Bezahlung von Leiharbeitern ab dem ersten Tag ihres Einsatzes weiterhin offensiv vertreten, auch im Bundestagswahlkampf.

Für Jutta Krellmann, gewerkschaftspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, ist diese Spielart der Tarifautonomie eine gefährliche Entwicklung. Tarifbindung habe seit jeher das Ziel gehabt, »die Arbeits- und Lebensbedingungen aller Beschäftigten, die unter ihrem Schutz arbeiten, zu verbessern« schrieb Krellmann am Dienstag in einem Beitrag für das »Handelsblatt«. Flächentarifverträge sollten darüber hinaus sichern, »dass der Wettbewerb in einer Branche über das Produkt und nicht über prekäre Beschäftigungsformen und Lohndumping ausgetragen wird«.

Die Deregulierungen der letzten 20 Jahre am Arbeitsmarkt hätten aber Spuren hinterlassen und Gewerkschaften geschwächt. Arbeitgeber hätten sich systematisch aus der Tarifbindung verabschiedet, ohne dass Gewerkschaften diese Tarifflucht verhindern konnten oder der Gesetzgeber regulierend eingegriffen habe. Auch jetzt habe sich die Regierung gescheut, eindeutige Schutzbestimmungen für prekär Beschäftigte ohne Schlupflöcher auf den Weg zu bringen. Im Gegenteil: Es sei ein »fataler Ansatz«, wenn in vermeintlichen Schutzgesetzen die Möglichkeit eröffnet werde, mit »tarifdispositiven« Regelungen von den eigentlichen Mindeststandards nach unten abzuweichen und gesetzliche Schutzrechte zu unterlaufen, so Krellmann. Das sei »die Pervertierung von Tarifpolitik«. Zudem verlören Gewerkschaften, die mit Blick auf kurzfristige Klientelinteressen derartige Verschlechterungen mittragen, mittelfristig »an Legitimation und Ansehen«.

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