Gepflegte Feindschaft
Radler und Autofahrer sind im Hass aufeinander Verbündete - gegen die Wahrheit
Eine der Täuschungen, die von den real existierenden Problemen ablenken sollen, ist die Behauptung, der Automobilist sei der schlimmste Feind des Radfahrers. Diese Art der Ablenkung führt eine bizarre Koexistenz mit ihrem Gegenteil - der Anklage, es sei in Wahrheit der Radfahrer der schlimmste Widersacher der Automobilisten . Selbstverständlich sind beide Sichtweisen falsch, um nicht zu sagen: pure Ideologie, also notwendig falsches Bewusstsein. Warum ist das so?
Lesen Sie auch die Kommentare »Bis Euch der Sprit ausgeht« und »Alles, was auf Rädern rollt«.
Dem Radfahrer behagt die Tatsache nicht, dass es nach der Erfindung des Drahtesels eine weitere Innovation gab, die sich technisch als überlegen erwiesen hat und die für ebenso gute wie längst vergangene 30 Jahre zum Motor eines wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus wurde. Den Automobilisten wiederum plagt das schlechte Gewissen, weil ihm insgeheim völlig klar ist, dass sein Fortbewegungsmittel so unökologisch wie asozial ist, ein Gefährt, das Personen voneinander isoliert - und wenn sie doch zusammentreffen, ist oft ein Radfahrer tot.
Beide Seiten müssen nun, anders lässt sich die jeweilige Beschissenheit des Daseins offenbar nicht ertragen, irgendeinen Sündenbock finden, den zu kritisieren, zu beleidigen, als gesellschaftliche Fehlentwicklung zu verunglimpfen die eigene Unzulänglichkeit kompensieren soll. Und so haben sie sich gefunden. Mehr noch: Weil es für beide Seiten Echokammern gibt, aus denen immerzu Beifall für das je eigene Lager strömt, hat die gut gepflegte Feindschaft längst die Form einer Sublimierungsleistung angenommen: ob nun als Autoverkehrslobbyismus oder als ökologisch inspiriertes Radlertum, ob als Bewegungsform eines postfossilen Antikapitalismus oder als gewerkschaftlich verbrämte Joberhaltungspropaganda - es ist beinahe unumgänglich, sich einer der beiden Seiten anzuschließen. Der Hass auf wahlweise zwei oder vier Räder wird so zur sozial akzeptierten Praxis. Und zum Zwang.
Der eigentliche Zweck der Übung, um darauf zurückzukommen, ist Ablenkung von der Wahrheit - von der eigentlich offenkundigen Tatsache, dass die schlimmsten Widersacher der Autofahrer andere Autofahrer sind und die furchtbarsten Feinde der Radler andere Radler. Da der Autor zu beiden Gruppen zählt, kann er aus großer Erfahrungsempirie schöpfen. Der Autofahrer ist unter dem Niveau der Geschichte, es gibt ihn bald nicht mehr. Also reicht es, hier abschließend den Radler pädagogisch zu adressieren:
Wer fürderhin auf absichtsvoll ungepflegten, wackeligen Gefährten (Retro), in fahrrad-ungeeignetsten Jugendmoden (Arschspalte) auf den viel zu engen Radwegen Berlins (Altparteien) an der Ampel die Warteschlange der Wohlerzogenen überholend sich vordrängelt, um dann bei Grün wegen eines durch angeberisches Vor-das-Kinn-halten lächerlichen Telefonats (Digitalisierung) doch erst als Letzter loszufahren, das auch noch in einer physikalisch absurden Nicht-Geschwindigkeit, die aus dem übermäßigen Konsum von Club-Mate-Getränken herrührt (Drogenproblem) - den soll der Teufel holen.
Aber bitte nicht mit dem Auto.
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