Schmähung an der Kirchfassade
Sachsen-Anhalt: Mahnwache fordert Entfernung der »Judensau« in Wittenberg - und findet in Stadt und Landeskirche keine Unterstützung
Die Führung durch Wittenberg endet im Kirchhof der Stadtkirche St. Marien unter einer Zeder. Astrid Räuchle lenkt die Blicke ihrer Gäste in die Höhe. Oben an der Fassade des Gotteshauses, in dem Martin Luther predigte, hängt ein Relief aus Sandstein. Es ist die sogenannte Judensau, »eine üble Beleidigung«, sagt Räuchle. Das Relief zeigt ein Schwein, dem ein Rabbiner unter den Schwanz schaut. Weitere Juden saugen an den Zitzen des Tiers, das in ihrer Religion als unrein gilt. Angebracht, sagt die Stadtführerin, wurde es 1304, als in Wittenberg die Pest wütete und man die Juden zu Sündenböcken erklärte. 700 Jahre später wirkt es peinlich. »Wie«, fragt Räuchle, »geht man damit um?!«
Auf dem Markt ist die Antwort klar: Entfernen und ab damit ins Museum. So lautet die Forderung einer Mahnwache, die noch bis Ende Juni jeden Mittwoch vor dem Standbild Martin Luthers abgehalten wird. Sie wird organisiert von einem Pfarrer aus Leipzig und einer Ordensfrau aus Darmstadt. Unter den Teilnehmern ist auch Klaus Bergmann. Man dränge auf ein »Zeichen der Distanzierung von unserer Geschichte«, sagt der Pfarrer im Ruhestand. Die »Judensau« sei nicht nur eine Beleidigung für Juden, sondern auch für Christen, schließlich »war Jesus Christus Jude«, sagt Bergmann. Er findet, derlei Schmähungen hätten in der Öffentlichkeit ebenso wenig etwas zu suchen wie Hakenkreuze. Das Relief sollte im Museum gezeigt werden; an der Kirche wünscht er sich einen leeren Fleck mit dem Text: »Vater, vergib!«
In Wittenberg hält man von der Forderung wenig. Ein Passant empfindet die Mahnwache als »neues Jakobinertum« und wettert über »neue Rechthaber, die uns nicht zutrauen, selbst nachzudenken«. Stadtführerin Räuchle verweist darauf, dass manche der in Deutschland im Mittelalter angebrachten »Judensäue« in Museen verbracht wurden; rund 30 derartige Abbildungen sind aber auch noch zu sehen, darunter an den Domkirchen von Brandenburg, Erfurt und Magdeburg. Räuchle hält es für besser, das Relief zu erhalten - und zum Anlass zu nehmen, über diese dunkle Seite der Beziehung zwischen Christen und Juden zu sprechen: »Sonst kann man darüber hinweg gehen und die Geschichte weiß waschen.«
In Wittenberg wird über die Frage schon lange diskutiert. Im Jahr 1988 entschied man sich, der »Judensau« ein zweites Relief entgegenzusetzen. Es ist in das Pflaster des Kirchhofs eingelassen und zeigt Platten, aus deren Ritzen etwas emporquillt. Im umlaufenden Text wird der Bogen von der mittelalterlichen Verhöhnung der Juden zum Holocaust und dem Mord an sechs Millionen Juden im 20. Jahrhundert geschlagen. Die Initiative für das von Wieland Schmiedel entworfene Mahnmal ging vom Wittenberger Theologen Friedrich Schorlemmer und der Publizistin Lea Rosh aus. Bei seiner Einweihung sangen Schüler aus Tel Aviv; zudem wurde die Zeder gepflanzt.
Bei der Mahnwache kennt man das Relief. »Sehr eindrücklich« nennt es Klaus Bergmann; der Text aber sei »zu kompliziert«. Zudem geht es der Initiative nicht nur um das konkrete Relief, sondern um eine Distanzierung der Evangelischen Kirche vom gerade auch bei Martin Luther stark ausgeprägten Antisemitismus. »Die Welt schaut 2017 nach Wittenberg«, heißt es in einem Flugblatt; das Signal einer Abnahme der »Judensau« würde ebenso weithin wahrgenommen.
Dass es zu einem solchen Schritt kommt, ist freilich unwahrscheinlich. Die Stadtkirchgemeinde hatte sich in einer Stellungnahme im Februar zu einer Erinnerungskultur bekannt, die das »Originalstück am Originalplatz« belassen wolle. Und Landesbischöfin Ilse Junckermann hatte anlässlich einer in England gestarteten Petition gegen das Relief voriges Jahr erklärt, man wolle die »Wunde in unserer Geschichte« bewusst offen halten.
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