Schlimmstes Attentat in Friedenszeiten
Mahnwache am Abend in Manchester
Die Manchester-Arena bietet als die zweitgrößte Hallenarena Europas 18 000 Sitzplätze. Sie wird bei Auftritten internationaler Popstars genutzt. Darunter Montagabend die US-Amerikanerin Ariana Grande, unter jungen Mädchen und Teenagern besonders beliebt. 22 Fans oder auf sie wartende Eltern werden jedoch nie nach Hause gehen. Weitere 59 sind durch die Tat eines Selbstmordbombers im Foyer der Arena zum Teil schwer verletzt. Der Attentäter ist Brite. Der Wahlkampf ruht. Verzweifelte Angehörige, die Nachrichten von ihren Lieben ersehnen, kennen hingegen keine Ruhe mehr.
Manchester kennt sich mit Anschlägen aus: 1996 sprengte eine Bombe der irischen IRA das dortige Arndale-Einkaufszentrum. Aber damals kam niemand ums Leben. Das Attentat vom Montag war damit das schlimmste zu Friedenszeiten in Nordengland. Ja, Frieden ... Als erste Tote wurde die 19-jährige Studentin Georgina Callender genannt, als zweite die achtjährige Grundschülerin Saffie Rose Roussos. Der Polizeichef von Manchester, Ian Hopkins, geht von einem männlichen Selbstmordbomber aus, warnt jedoch vor voreiligen Spekulationen, da die Suche nach Hintermännern weitergeht.
Der sogenannte Islamische Staat (IS) hat sich als Anstifter des Massenmordes bekannt. Aber Gordon Corera, Sicherheitskorrespondent der BBC, bezweifelt eine direkte Mittäterschaft wegen bestimmter Formulierungen in der angeblichen Bekenntnisnote.
Ein 23-Jähriger ist schon als möglicher Helfer beim Attentat verhaftet worden, meldet ein Polizeisprecher, zwei weitere folgten am Nachmittag. Chris Phillips, ehemaliger Leiter der nationalen Antiterror-Agentur, warnt: mit Folgeanschlägen sei zu rechnen. Der benachbarte Bahnhof Victoria bleibt leer. Das Arndale-Center wurde vorsichtshalber evakuiert. Eine unnatürliche Stille liegt über der Stadtmitte, so ein örtlicher Pfarrer in der Radiosendung The World at One. So die Lage Dienstagmittag.
Nationale wie lokale Größen beeilten sich, das Attentat zu verurteilen. Die Queen drückte ihr Mitleid aus, sprach von einem Schock fürs ganze Land, dankte den Helfern. Premier Theresa May erklärte, es gebe keinen Zweifel daran, dass die Bevölkerung Manchesters und dieses Landes Opfer eines eiskalten terroristischen Angriffs geworden sei. Sie geißelte den »herzlosen, feigen Massenmord«, ließ den Wahlkampf für unbestimmte Zeit ruhen, genoss die Gelegenheit, sich in der Downing Street als starke, dem Terror trotzende Frau fotografieren zu lassen und fuhr anschließend nach Manchester - sicher rechtzeitig für einen Auftritt in den Abendnachrichten.
Oppositionschef Jeremy Corbyn gelobte, die Bürger Manchesters ließen sich nicht auseinanderdividieren, mahnte zu weiterer gegenseitigen Hilfe. Őrtliche Politiker wie der neugewählte Labour-Oberbürgermeister Andy Burnham wirkten überzeugend. Er hat für den Abend zu einer Mahnwache aufgerufen. Manchester trauere, aber die Stadt sei stark.
Sein Liverpooler Kollege Steve Rotheram, dessen beide Töchter und Nichten das Konzert besuchten und überlebt haben, lobte die spontane Hilfsbereitschaft der dortigen Bewohner. Der britische Moslemrat verurteilte unverzüglich das »entsetzliche Verbrechen«, ermahnte alle zu weiterer Hilfsbereitschaft und Zusammenarbeit. Ob es im Gegenzug zu Beleidigungen und Angriffen auf Moslems kommt, war noch nicht absehbar.
Für Spekulationen über mögliche Auswirkungen auf den Wahlkampf - am 8. Juni stehen vorzeitige Neuwahlen an - ist es wahrscheinlich zu früh. Andererseits: Theresa Mays Image als starke Frau und Chefin einer stabilen Regierung war in letzter Zeit schwer angekratzt. Sie schlug im konservativen Parteimanifest zwar eine Lösung der Finanzierungsfrage der Altenpflege vor, zog diese aber wegen wütender Reaktionen von bisherigen Tory-Anhängern im Rentenalter nach vier Tagen wieder zurück. Erst Brexit - vor der Abstimmung dagegen, dann dafür in der allerschädlichsten Form -, dann acht Mal vorzeitige Wahlen ausgeschlossen und sie doch ausgerufen. Auch die geplante höhere Besteuerung von Selbstständigen durch den Finanzminister Philip Hammond wurde nach einer Woche als Verunsicherung der Wähler zurückgezogen.
Da war es vielleicht vermessen, sich im Gegensatz zu Corbyn als konsequente Kämpferin und Verhandlungsteilnehmerin mit den EU-Partnern auszugeben. Der vierte Umfall, diesmal in der Frage der Altenpflege, wird jetzt wohl durch das Attentat in Vergessenheit geraten.
Jeremy Corbyn hat in den letzten Tagen mit erfolgreichen Wahlversammlungen gerade bei Jugendlichen gepunktet, aber diese Initiative dürfte jetzt wieder verloren gehen. Der Extremist, der bisher 22 unschuldige Menschen mit sich in den Tod gerissen hat, hätte damit für die Fortsetzung einer konservativen Politik gesorgt, die er angeblich verurteilte.
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