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Venezuela braucht den Dialog

Lateinamerikanische Intellektuelle appellieren an Regierung und Opposition

  • Lesedauer: 7 Min.

Der Ausgangspunkt ist Venezuela selbst: Intellektuelle, ehemalige Minister der Chávez-Regierung bis hin zu moderaten Oppositionspolitikern haben in einem Appell dazu aufgerufen, die Gewalt zu stoppen und in den Dialog zu treten. Veröffentlicht wurde der Aufruf, den unter anderem der Soziologe Edgardo Lander, Chávez ehemaliger stellvertretende Bildungsminister Nicmer Evans und der ehemalige Koordinator des Oppositionsbündnisses MUD, Enrique Ochoa Antich, unterzeichnet haben, auf der chavistischen Website aporrea.org. Diese Initiative haben Wissenschaftler*innen in ganz Lateinamerika aufgegriffen, die ihrerseits einen unterstützenden Appell verfasst haben, den »nd« hiermit dokumentiert:

Dringender internationaler Aufruf

Die Gewaltspirale in Venezuela stoppen!
Jenseits der Polarisierung hinsehen, was in Venezuela passiert

Als AkademikerInnen, Intellektuelle und soziale AktivistInnen möchten wir unsere tiefe Besorgnis über die unkontrollierte Eskalation politischer und sozialer Gewalt in Venezuela zum Ausdruck bringen. Sie hat bereits mehr als fünfzig Tote gefordert hat sowie Hunderte von Verletzten und Verhafteten, die an Militärgerichte überstellt werden.

Wir sind überzeugt, dass die gewaltvolle Situation, in der Venezuela verfangen ist, verschiedene, komplexe Ursachen hat. Sie ereignet sich im Kontext einer immer schärferen politischen Polarisierung und des Zerfalls des sozialen Gefüges. Der venezolanische Konflikt hat verschiedene Gesichter.

Auf der einen Seite steht eine zunehmend delegitimierte Regierung mit stark autoritären Zügen. Das begann damit, dass die Exekutive anderen Staatsgewalten ihre Macht aberkannte, namentlich der Legislative, wo die Opposition seit den Wahlen im Dezember 2015 eine Mehrheit hat. Es ging weiter mit der Verzögerung und Verhinderung des Abwahlreferendums -einem demokratisierenden Instrument, das die chavistische Verfassung eingeführt hatte -, der Verzögerung der im vergangenen Jahr anstehenden Gouverneurswahlen, und schließlich dem gescheiterten Eigenputsch der Exekutive Anfang April 2017, in dem das oberste Gericht dem Präsidenten alle Rechte der Legislative zusprach. Hinzu kommt der jüngste Aufruf zu einer verfassunggebenden Versammlung auf eindeutig verfassungswidrigem Weg, der alles andere als die Krise entschärfend wirkt. Vielmehr nährt und vertieft er sie, da er die Absicht verdeutlicht, inmitten eines tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Notstands mit Nahrungsmittel- und Medikamentenknappheit ein totalitäres Regime zu installieren.

Wir teilen nicht die Überzeugung einiger Teile der lateinamerikanischen und internationalen Linken, dass es heute darum geht, eine populäre und anti-imperialistische Regierung zu verteidigen. Diese bedingungslose Unterstützung einiger Intellektueller und Aktivisten zeugt nicht nur von ideologischer Verblendung, sondern sie schadet auch aktiv, indem sie zur Konsolidierung eines autoritären Regimes beiträgt. Gesellschaftlicher Wandel oder Kapitalismuskritik dürfen nicht auf antidemokratischen Projekten gründen, die letztlich eine Intervention von außen »im Namen der Demokratie« rechtfertigen können. Die Verteidigung gegen jegliche Art von Einmischung von außen muss sich aus einer Vertiefung der Demokratie speisen und nicht aus einer Vertiefung des Autoritarismus.

Als linke Intellektuelle verkennen wir andererseits auch nicht die regionale und globale geopolitische Lage. Es ist eindeutig, dass es in den Reihen der – sehr breiten und heterogenen - Opposition extremistische Strömungen gibt, die auch an einer gewaltsamen Konfliktlösung interessiert sind. Sie verfolgen das Ziel, so bedrohliche Vorstellungen wie die von sozialer Organisierung, von partizipativer Demokratie, von tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderung zugunsten der Subalternen ein für alle Mal aus dem populären Gedächtnis auszumerzen. Diese Rechtsaußen-Strömungen haben spätestens seit dem versuchten Staatsstreich von 2002 politische und finanzielle Unterstützung vom State Department der USA erhalten.

Als Bürgerinnen und Bürger Lateinamerikas und anderer Länder fühlen wir uns doppelt verpflichtet: Einmal der Demokratie - das heißt, einer partizipativen Demokratie, die nicht nur regelmäßige Wahlen beinhaltet, sondern auch BürgerInnen auf den Strassen und die Ausweitung öffentlicher Räume, in denen Entscheidungen kollektiv und gemeinschaftlich getroffen werden; einer egalitären Demokratie, die Rechte ausweitet und die Gesellschaft so gerechter macht. Zum zweiten sind wir den Menschenrechten verpflichtet, was einen Minimalkonsens an gegenseitigem Respekt beinhaltet, der Folter oder Tod des politischen Widersachers genauso ausschließt wie die Lösung unserer Konflikte mit gewaltsamen Mitteln.

Wir glauben, dass der Hauptverantwortliche der derzeitigen Situation in Venezuela der Staat in den Händen der derzeitigen Regierung ist, als Garant der Grundrechte. Doch wie wir eingangs gesagt haben, ist es dringend geboten, sich der Polarisierung zu verweigern, um andere Wege eines politischen und gesellschaftlichen Dialogs zu suchen, der auch denjenigen gesellschaftlichen Gruppen eine Stimme gibt, die aus dem derzeitigen katastrophalen Patt herauszukommen suchen; und auch, sich jenseits jeglicher gewaltsamen Lösung zu positionieren.

Aus diesen Gründen erklären wir uns solidarisch mit dem Aufruf zu einem demokratischen, pluralen Dialog, der die verschiedenen Stimmen in ihrer Vielfalt zu Wort kommen lässt und nicht nur die polarisierten Sektoren von Regierung und Opposition – ein Aufruf, den einige Sektoren der venezolanischen Gesellschaft jüngst aus eigenem Antrieb lanciert haben: PolitikerInnen, AkademikerInnen, landesweite politische und soziale Organisationen, ehemalige MinisterInnen von Chávez und ehemalige AnführerInnen von Teilen der Opposition, sowie politische AktivistInnen aus dem Bereich der Menschenrechte, den Kommunen, und der Gewerkschaften.

Wir rufen dringend dazu auf, dass sich ein Internationales Komitee für den Frieden in Venezuela bildet, um die Spirale von institutioneller Gewalt und Gewalt auf den Straßen zu stoppen. Als Linke setzen wir darauf, dass in Venezuela jenseits von Polarisierung und Gewalt eine andere Form von Dialog möglich ist.

Die Auswege aus derartigen Krisen sind immer lang und kompliziert, doch sie bedürfen eines Mehr an Demokratie, niemals eines Weniger. Und dieser Prozess kann nur dann zum Erfolg führen, wenn sowohl die Menschenrechte als auch die Selbstbestimmung der Venezolanerinnen und Venezolaner respektiert werden.

ErstunterzeichnerInnen: Alberto Acosta, economista, ex presidente de la Asamblea Constituyente, Ecuador. Maristella Svampa, socióloga y escritora, investigadora del Conicet, Argentina. Roberto Gargarella, Abogado Constitucionalista, Investigador del Conicet, Argentina. Carlos Altamirano, Historiador, ensayista, Profesor de la UNQUI, Argentina. José Nun, Abogado y politólogo, Presidente Fundación de Altos Estudios Sociales, Argentina Chico Whitaker, Brasil, co-fundador del Forum Social Mundial, Premio Nobel Alternativo de 2006 Raúl Prada, Coordidador de Pluriversidad Oikologías) miembro de Comuna, Bolivia. Raphael Hoetmer, Holanda/Peru Enrique Viale, Abogado Ambientalista, Argentina. Beatriz Sarlo, Ensayista, escritora, Argentina Carlos Walter Porto-Gonçalves – Brasil Miguel Alonso Arconada García, Ingeniero Geólogo. Universidad de los Andes. Venezuela Catherine Walsh, Universidad Andina, Ecuador. Pablo Alabarces, Sociólogo, Universidad de Buenos Aires, Argentina Horacio Machado Aráoz, Investigador del Conicet y docente de la Universidad Nacional de Catamarca, Argentina Massimo Modonesi, Historiador, UNAM, México Adrian Gorelik, Arquitecto, Universidad Nacional de Quilmes, Argentina Patricia Zangaro, Dramaturga, Argentina Ruben Lo Vuolo, Economista, CIEPP, Argentina Samuel Farber, Profesor Emérito de Ciencias Políticas, Brooklyn College de la Universidad de la Ciudad de Nueva York (CUNY), Estados Unidos José Miguel Onaindia, abogado, gestor cultural, Uruguay-Argentina Julio Aguirre, Politólogo, Universidad Nacional de Cuyo, Argentina Patricia Pintos, Geógrafa, Universidad Nacional de La Plata, Argentina Osvaldo Acervo, Politólogo, Argentina. Marcelo Plana, Ingeniero, Argentina Dr. Alex Ricardo Caldera Ortega, Director de la División de Ciencias Sociales y Humanidades, Campus León de la Universidad de Guanajuato, Mexico Rafael Rojas, Centro de Investigación y Docencia Económicas, CIDE, México María Eugenia Borsani, Universidad Nacional del Comahue, Directora del CEAPEDI, Argentina. Daniel Chávez (Uruguay), Instituto Transnacional (Amsterdam) Elizabeth Peredo Beltran - Psicóloga social, investigadora y activista, Bolivia Darío Lagos, Psiquiatra, Eatip, Argentina Ana Sarchioni, Politologa, Argentina. Jorge Jabkowsky, Médico, Colectivo Andrés Carrasco, Argentina Vera Carnovale (CeDInCI/UNSAM-CONICET), Argentina María Suárez Luque, Escuela de Educación, Universidad Central de Venezuela Gilles Bataillon, Ecoles des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Francia

Bitte senden Sie ihre Unterstützungsunterschrift an: comiteporlapazenvenezuela@gmail.com

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