Drachenblutbad mit Lindenblatt

An diesem Mittwoch wird der theaterbesessene Claus Peymann 80 Jahre alt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Was zählt, ist ja nicht das, was vom Grunde der Seele kommt, sondern das, was in sie eindringt. Es entscheidet der Eros der Bewegung, der Sendungskraft, der bohrenden Anwesenheit, der unbedingten Präsenz. Theater ist Ausdruck, entsteht aus Druck: Einzig, was rausgehauen wird, haut rein; immer alles stemmen und stemmen - um irgendwann, ein wenig, zu schweben. Das ist Leit- und Leid- und Lust- und Lastmotiv des Claus Peymann. Aufsteiger in Stuttgart, Aufmischer in Bochum, Aufreißer in Wien, Ausläufer in Berlin - Aufmacher und Aufschneider und Ausverschämter und Aussteller und Aufklärer, allerorten wie allerzeiten.

Es ist zu vermuten, dass mit dem 1937 geborenen Direktor des Berliner Ensembles - in nicht mal mehr einem Monat - der letzte Universal-Prinzipal im deutschsprachigen Raum seinen Abschied nimmt: vom Spielplan bis zur Toilettenspülung, vom Höhenflugplan bis zum Fluchtplan - Direktors Dasein als wortwörtliches und ausdauerndes Da-Sein, als Gesamtkunstwerk einer Biografie, für die Theater alles ist: Palast, Kerker, Therme, Tollhaus, Turnhalle. Und ein Friedhof, denn jede Aufführung wird, indem man sie spielt, auch zu Grabe getragen.

Peymann ist der Typ des Oberbestimmers, den aber seine Leidenschaft, seine allumgreifende Art immer in der Position des Dieners, des Knechts hielten, des Hechelnden, der zutiefst bedauert, dass er sich nicht selber überholen kann. Und wahrscheinlich schmerzt ihn, dass er als Intendant mitunter höher gehandelt wurde denn als Regisseur. Erstens aber keine Schande, zweitens nicht wahr. Wohl an die zwanzig Mal reisten Inszenierungen von ihm zum alljährlichen Berliner Theatertreffen. Ihm gelangen große Würfe, mit Kleist, Lessing, Goethe, Shakespeare. Natürlich: mit Handke, Bernhard. Vielleicht ist er der kühnste Feigling: Dichterliebe und Dichtergehorsam als Grundeigenschaften für ein ertragreiches literarisches Theater. Ein König des Schlepptaus. Ein Windschattentänzer. Ein sklavischer, also avantgardistischer Autor-Anbeter. Ein Pionier für die Liaison von Politik und Poesie, die stets eine gebrochene bleiben muss, um wahrhaftig zu sein.

Ein Kopf, hochrot im Begehren nach Bewusstseins-Erdbeben. 2010 inszenierte Peymann am BE Mark Ravenhills »Freedom And Democracy I Hate You«, eine räudige Szenenfolge gegen den Irakkrieg. Der Aufführung gingen bald die Zuschauer aus, Peymann schrieb einen verzweifelt-zornigen Offenen Brief an sein Publikum. Er fragte: »Wollen Sie auf unserer Bühne nicht sehen, wie die Kollateralschäden heutiger Kriege unsere Seelen verwüsten?« Er mutmaßte im Brief, Spielplan-Fehler gemacht, das Publikum in den letzten Jahren »zu sehr verwöhnt«, ihm »die dunkle Seite unserer Gegenwart« vorenthalten zu haben. Sympathisch, berührend, wie hier jemand die Zeit quasi zurückdrehen wollte ins Unmittelbare einer wohl erledigten politischen Kunstwirkung.

Und wie er nun leidet, weil Theater nur Tempel ist, wo er doch den Kampfplatz will - das weht wie ein Schmerz herüber, wie ihn nur kämpfende Trotzköpfe und störrige Narren kennen. Dieser Brief griff ein in den modernen Grundkonflikt zwischen gepflegter Hochkultur und verstörender politischer Direktheit. Peymann vertritt beides. Das ist sie, die Freiheit im Teufelskreis: Für einen Platz über den Zinnen bleiben wir gern unter unseren heimlichen Sehnsüchten; wir wieseln herum, damit nur keiner auf die Idee käme, uns fehle etwas. Aber nur der, dem etwas fehlt, hat etwas zu sagen.

Erinnerung an große Momente. Da war »Ritter Dene Voss« von Thomas Bernhard, 1986, Burgtheater Wien, später auch am Berliner Ensemble. Zwei Schwestern. Und ihr Bruder - aus Wiens Nervenheilanstalt Steinhof versuchsweise heimgeholt ins herrschaftliche Haus. Dieser Bruder Ludwig: Patient und Philosoph. »Einmal im Leben eine verrückte Idee haben!« Sagt er, und Gert Voss, einer der beglückend großartigen Meisterspieler deutschsprachigen Theaters, erhebt ihn zum Zentrum einer Verdämmerung, die eingebettet ist in rasende Phasen geistiger Hyperaktivität. Er erstickt fast an Brandteigkrapfen. Tyrannisiert und doziert. Und wird in Augenblicken aus bösem lautem Ekel-Glanz doch immer wieder ins Klägliche seiner Existenz gestürzt. Das tut, inmitten einer nie nachlassenden Komödie, tiefweh. Voss spielt - neben Kirsten Dene und Ilse Ritter - in atemberaubenden Varianten von Fiebrigkeit, Aggressivität und Erschöpfung die Vereinsamung eines Geistes, dessen eigener Wahnsinn doch noch immer so hellsichtig ist, dass darin der Irrsinn der Welt aufleuchtet.

Da war »Zurüstungen für die Unendlichkeit«, 1997 am Wiener Burgtheater. Bilder »vom letzten Krieg bis jetzt und darüber hinaus«. Den Osten gibt es nicht mehr, der Westen ist nicht mal mehr Kraut und Rüben, im Norden steht ein Holzpferd im Kunstschnee, im Süden liegen lauter leere Bierflaschen. So beschreibt Peter Handke die Welt. Claus Peymann lässt Flügel brennen und fallen, Flaggen aufflammen, Blätter zum Himmel schweben. Pfeile schwirren, und ein toter Vogel flattert.

In einer Zeit der lebenszerstörenden Überreizung, der Wertverlorenheit, der zerstobenen Mythen und der polternd ungedämpften Informationshatz behaupten Peter Handke und Claus Peymann die Möglichkeit einer naiven, trotzig träumenden Gegenerzählung (»Kein Jesus soll mehr auftreten, aber immer wieder ein Homer«). Verweise auf jenes andere Leben, das wir aus den Augen verloren. Das doch aber Sinn stiften könnte: unseren Erdenaufenthalt zu begreifen als eine Abfolge unendlich schauenswerter Sekunden. Theater als Trotz-alledem-Frieden in frostgrauer Welt.

Weitgreifender Rückblick: »Die Gerechten«, 1976, Schauspiel Stuttgart. Albert Camus zeigt russische Revolutionäre, Anarchisten, Terroristen - sie planen ein Attentat, sie sprengen ein Fahrzeug in die Luft, es gibt Tote. Der letzte Satz im Stück: »Die nächste Bombe werfe ich.« Applaus im Publikum! Peymann erzählt: »Dann die Haffner-Sinfonie von Mozart, eine Straßenbahn erscheint auf einer Filmleinwand. Es ist die Linie fünf. Sie fährt vom Theater nach Stammheim. Buh! Der Theaterskandal war da. Was von Zuschauern für Russland und gegen den Zaren als berechtigt und gerecht empfunden wurde, galt in Verknüpfung mit Baader-Meinhof, mit Stammheim, gegen Vietnam und den Presse-Zar Axel Springer als unerlaubt. Der Riss im öffentlichen Bewusstsein war somit schmerzlich aufgedeckt. Das ist die Unergründlichkeit dessen, was ich Erlebnis nenne. Theater ist nicht Erkenntnis, sondern Selbsterfahrung.«

Was diesen großartig Fiebrigen probensüchtig machte, war wohl immer auch die Furcht vor Einsamkeit. Nicht zufällig schilderte er sehr eindringlich, wie er während des Studiums in Hannover den alten Regisseur Jürgen Fehling am Hofweg spazieren gehen sah. »Er konnte nicht mehr inszenieren. Ich weiß nicht, ob es Depressionen waren. Er hat Arbeiten nur noch angefangen und es dann nie zu Ende gebracht. Er ging in der Sonne spazieren und hat den Kopf ein bisschen schief gehalten. Ich habe gedacht: So sehen also die alten Regisseure aus - Kämpfe, dumme Angriffe. Es ist im Prinzip unerträglich. Aber diese Leute, die uns - weil wir unablässig weitermachen - mit Dreck bewerfen, die machen einen gleichzeitig unverletzbarer.« Man kann in der Häme solcher Kritiker wie in Drachenblut baden. Aber klar, das herabtänzelnde verhängnisvolle Lindenblatt kann niemand aufhalten.

Es ist selten geworden im Theaterbetrieb, dass eine Gestalt sich so nachhaltig aufwirft, uns packt, so ganz fern vom Wirklichen und doch mitten darin - Claus Peymann steht da, in aller Größe und Lächerlichkeit jenes Moments, da Leben sich entblößt als blödes Theater. Das aber immer auch wieder ins Glänzen gerät und Sinn und Seele der Existenz spiegelt. Peymann, der Doppelkopf: Mime und Mimose, Don Quichote und Dompteur. In den letzten Jahren sind seine Theatergestalten weiß- und rotbäckchengeschminkt geworden. Die resignative Ästhetik? Alles nur Spielbudenzauber? Als Moralist ist er (gern!) ein Kasper, will Dynamit sein, sitzt aber bloß auf einem Brausepulverfass - doch all seine Gaukelei will trotzdem noch immer etwas Gutes, Gütiges glauben machen. Wo er kindlich sein will, ist er auch albern, aber mitten im kindischen Spektakel gelang ihm stets auch Erschütterung. An diesem Mittwoch wird Claus Peymann 80 Jahre alt. Zum herzlichen Glückwunsch ein Satz von Heiner Müller: »Der Weg ist nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert.«

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