Die Hauptstadt als Sportplatz
Eine ganze Woche Vielfalt: Das Internationale Deutsche Turnfest in Berlin
Auf dem S-Bahnhof nahe dem Berliner Messegelände ICC herrscht reges Gedränge. In Scharen strömen Gäste und Teilnehmer des Internationalen Deutschen Turnfestes zum Herzstück der siebentägigen Veranstaltung: der Turnfest-Messe. Die meisten, die es in Richtung der Hallen zieht, tragen bunte Sportkleidung, Turnbeutel und Vereinsjacken in grün, rot, blau oder weiß. Die 12-jährige Johanna ist auf dem Weg in die Bodenturnhalle. Dort will sie ihren Mitstreitenden den eingeübten Flick-Flack zeigen. »Den habe ich extra für das Turnfest gelernt«, erzählt die junge Sportlerin.
In den 26 Hallen ist für Turnbegeisterte alles dabei: von der Kinderturnwelt für die Jüngsten bis zum Alltagsfitnesstest und Rollator-Führerscheinkurs für die Älteren - hier lässt sich viel Zeit verbringen. Wer mehr will, als nur Zuschauen, kann zum Beispiel in der Boulderhalle selbst aktiv werden und in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden die etwa vier Meter hohe Kletterwand erklimmen oder an einem Aerobickurs teilnehmen. Aber auch Pokalwettkämpfe, zum Beispiel der Jugend, im Trampolinturnen finden hier statt.
In den meisten Hallen herrscht lebendiges Treiben - fast alle Anwesenden sind ständig in Bewegung. Der Geräuschpegel ist durch laute Musik, Mikrofonansagen und herumwirbelnde Turner enorm. Nur in der Fahnenaustellung, in der die Turnvereine ihre historischen Wimpel und Banner präsentieren, ist es still wie in einem Museum.
In der Ausstellungshalle beginnt der Konsumrausch. Hier wird Sportmode bekannter Marken mit Messerabatt verhökert; die Szenerie erinnert an den Ausverkauf im Weihnachtsgeschäft. Die Tüten voller neuer Sporthosen führt der Weg direkt in den Sommergarten. Auf der großen Bühne werden Wettkampfsieger geehrt und Tanzchoreographien aufgeführt. Drum herum Volksfeststimmung: Bierstände, Bratwurstbuden, eine Burgerbraterei. Man tanzt, trinkt uns isst bei ausgelassener Stimmung und erholt sich mit einer Bockwurst auf der Wiese von all der sportlichen Disziplin.
Von Proteinen und Paleo
Während die einen draußen schlemmen, erklärt die Ernährungswissenschaftlerin Katrin Kleinesper, wie man sich nach der Steinzeitdiät, auch Paleo genannt, ernährt und seinen Säure-Basen-Haushalt in Schach hält. Solche Fokusvorträge finden in der Zeit des Turnfestes täglich auf der Messe statt. Sie sind Teil der »Turnfest-Akademie«, einem Sportkongress mit Workshops und Referaten zu Themen wie Sport, Fitness und Gesundheit. Katrin Kleinesper erläutert die Ernährungspyramiden unterschiedlicher Ess-Philosophien, führt die Zuschauer durch die Ernährungstrends der vergangenen Jahrzehnte, von Light-Produkten bis Superfood. Man erfährt außerdem, dass Abnehmen mit der Low-Carb-Diät vor allem für Menschen mit der Blutgruppe Null funktioniert. Nach einer Reihe nützlicher Tipps zum Thema Abnehmen und gesunde Ernährung entlässt die Expertin ihre Zuhörer mit der beruhigenden Aussage: »Gesunde und ungesunde Lebensmittel gibt es nicht!« Dem mag aus dem Publikum niemand widersprechen.
Industrie und Erdbeeren
S-Bahnhof Bellevue, kurz vor zehn Uhr. »Wer möchte eine Erdbeere? Die müssen alle weg, bevor wir starten!«, ruft eine mittelalte Dame für alle deutlich vernehmbar. In der Tat, es ist nicht so praktisch, eine Schale Erdbeeren zu tragen, wenn man sich anschickt, eine mehr als zehn Kilometer lange Wanderung zu machen. Der Erdbeerverkäufer, der vom leichten Regen in seiner roten Hütte geschützt ist, sieht ziemlich erstaunt aus: Anstelle der wenigen Fahrgäste, die die Station normalerweise täglich frequentieren, haben sich jetzt mehr als hundert Menschen versammelt, um von hier aus das alte industrielle Berlin zu erkunden.
Es gibt aber nur einen Wanderführer für all die Teilnehmer. Schwierig ist es also, alle Erklärungen zu hören - der Mann spricht ohne Megafon. Statt »Oh, wie schön ist dieses alte Gebäude, wo August Borsig damals gelebt hat!«, hört man meistens: »Was hat er gesagt? Kann jemand wiederholen?« In den Straßen von Tiergarten, Charlottenburg, Moabit, Mitte oder Wedding springen Berliner Teilnehmer der Wanderung als Ersatzführer ein und verraten den neuen Freunden aus der Provinz die Geheimnisse ihrer Stadt.
Industriell ist Berlin nicht nur historisch. Ein Besuch am Westhafen, ein aktuelles Gewerbegebiet, gehört auch zum Programm. Hier, wie auch auf anderen Stationen, sieht man nicht nur schön restaurierte Industriedenkmäler. So fahren die Teilnehmer mit einem ehrlichen Bild der Hauptstadt im Kopf heim. Und einem Bauch voll mit Erdbeeren.
Mit Fallschirm und Feuerwerk
S-Bahnhof Olympiastadion. Die Zugwaggons sind zum Brechen voll, schlimmer als zur Stoßzeit in Tokio. Doch das stört die Wenigsten: Im Vorfeld des Höhepunktes der Turnfestwoche wird gelacht und gejubelt. Bei der Stadiongala versammeln sich 55 000 Zuschauer in den Reihen der größten Arena Berlins für eine Show der Superlativen. Ex-Weltmeister und Turnlegende Eberhard Gienger eröffnet die Feier mit seinem insgesamt 5192. Fallschirmsprung - und landet im Mittelkreis des Rasens. Direkt danach begrüßt er die 6000 Akteure des Abends. Es folgen DTB-Präsident Alfons Hölzl und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Nach kurzen Reden, die den Turnsport im Speziellen und körperliche Ertüchtigung im Allgemeinen loben, fängt die Feier an. Zwei Stunden lang folgen sportliche und künstlerische Leistungen aufeinander. Die meisten Teilnehmer kommen aus Deutschland, aber auch aus Skandinavien oder Japan. Ein Festival der Kulturen mit riesigen bunten Choreographien ist Hauptteil der Show. Kurz vor dem Abschlussfeuerwerk wird noch Reck-Olympiasieger Fabian Hambüchen verabschiedet. In den Augen des »nd«-Sportlers des Jahres 2016 floss kein Tränchen. »Eine bessere Kulisse als beim Turnfest kann man sich als Turner nicht vorstellen«, sagte der 40-fache Deutscher Meister, um den Kreis seiner 14-jährigen Karriere in der deutschen Nationalmannschaft zu schließen.
Entspannen in Merkels Vorgarten
»Okay Leute, jetzt singen wir das Om! Sogar die Kanzlerin soll Euch hören! Ach nee, sie ist wahrscheinlich im Urlaub an der Ostsee, wa?« Mit einem Witzchen, fängt der Tag immer besser an. Besonders wenn Pfingstmontag ist. Wo Angela Merkel gerade ist, kann keiner genau sagen. Aber vielen Hundert Leute, die sich um zehn Uhr getroffen haben, treiben Yoga an einem ganz ungewöhnlichen Ort: die Reichstagswiese. Auf einem Podest, steht der Yogalehrer, der mit seinem Mikrofon, die Grundlagen der indischen Entspannungsübungen erklärt. Mit dem Om (gespr. A-U-M) fängt es an: im Sanskritalphabet, das Alpha (O) und das Omega (M). Anders gesagt: Alles was gewesen ist, was ist und was noch sein wird. Bald vibriert am Reichstagsufer nahe des Bundestages ein stiller und beruhigender Gesang. Dann, das Ritual des Sonnengrußes, auch als Aufwärmen für eine Yogastunde bekannt: zwölf Asanas (Körperübungen), die mehrmals wiederholt werden. Die Übungen werden von zwei Volontären auf dem Podest gezeigt. Alle machen mit, ganz ernsthaft. Nur einige Teenager machen hier und dort mal Selfies zur Erinnerung an ihren ersten Yogakurs. Sonst aber sind die Teilnehmer völlig konzentriert, nichts kann sie stören, weder der Verkehrslärm noch die Touristen, die die Yogatreibenden von ihren bequemen Sitzen in den Doppeldeckerbussen wie seltsame Tiere beäugen.
Dieses Mitmachangebot des Turnfest ist ein großer Erfolg. Nicht nur Turnliebhaber sind anwesend. Passanten ziehen spontan ihre Schuhe aus, leihen sich gratis eine Yogamatte - und sind ganz plötzlich Yogini. Nach der Sitzung versprechen viele, weitermachen zu wollen. Sollten sie es wirklich tun, hätten die Organisatoren des Turnfestes ein Ziel erreicht: Deutschland in Bewegung bringen.
Schneller, höher, stärker
Die Profisportler sind beim Turnfest natürlich auch dabei. In der ausverkauften Max-Schmeling-Halle im Bezirk Prenzlauer Berg jubeln und schreien die Fans ihren Idolen zu: Marcel Nguyen, Lukas Dauser, Michelle Thiem, Elisabeth Seitz oder Kim Bui - sie alle turnen bei diesen besonderen Deutschen Meisterschaften. Am Boden, an den Ringen, am Stufenbarren oder am Pauschenpferd: die Übungen sind hochklassig, die Atmosphäre ist heiß. In den Augen der Kinder kann man den Traum lesen, in die Spuren ihrer Stars kommen zu wollen - egal wie viel Arbeit und Training es braucht. Aber alles zu seiner Zeit! An diesem Abend genießen sie einfach die Show ihrer Idole - mit Nougatcreme-Crêpes und vielen Freunden.
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