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Hessen ringt um neue Verfassung

Grundlegende Änderung soll 2018 zur Volksabstimmung vorgelegt werden

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 3 Min.

Im jahrelangen Tauziehen um eine grundlegende Reform der hessischen Landesverfassung stehen die Zeichen auf Volksabstimmung - zeitgleich mit der Landtagswahl 2018. Der CDU-Abgeordnete Jürgen Banzer zeigte sich als Vorsitzender der Enquetekommission am Wochenende optimistisch, dass sich sein Gremium noch rechtzeitig auf eine Vorlage für einen neuen Verfassungsentwurf einigen könnte. Hessen ist das einzige Bundesland, in dem die Wähler das letzte Wort über eine Änderung der Verfassung haben.

Die hessische Verfassung aus dem Jahr 1946 enthält zahlreiche fortschrittliche Aussagen und Gebote, die insbesondere der seit 1999 regierenden CDU wie auch der FDP stets ein Dorn im Auge waren. Dazu zählen etwa Artikel zur Sozialisierung wichtiger Industriebranchen und Enteignung bei Missbrauch wirtschaftlicher Macht oder zum Recht auf Arbeit, zum Aussperrungsverbot, zur Ächtung von Kriegen, zum Asylrecht sowie zum Antifaschismus.

Die kapitalismuskritischen Aussagen wurden damals von SPD, KPD und CDU getragen und nur von den Liberalen abgelehnt. Ähnliche Aussagen finden sich auch in anderen Landesverfassungen. Sie sind Ausdruck einer radikalisierten Stimmung kurz nach Kriegsende und Zerschlagung des Hitlerfaschismus.

CDU und FDP haben seit 2004 bereits zweimal erfolglos Anlauf zur grundlegenden Verfassungsänderung genommen. Während die Hessen-FDP die Artikel zur Wirtschaftsverfassung als »Stilblüten« bezeichnet und die schwarz-grüne Koalition gerne die »Soziale Marktwirtschaft« festschreiben würde, zeigen Repräsentanten von Gewerkschaften und Sozialdemokraten bislang keine Neigung, die entsprechenden kapitalismuskritischen Artikel zu streichen. »Wir wollen den Kern dieser Verfassung im Hinblick auf die Wirtschafts- und Sozialordnung erhalten«, erklärte Rüdiger Stolzenberg vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Der SPD-Abgeordnete Norbert Schmitt sagte: »Dieser historische Kern der Verfassung liegt uns besonders am Herzen.«

Laut Banzer hat die Enquetekommission bisher in mehr als 50 Sitzungsstunden rund 250 Änderungsvorschläge diskutiert. Bürger können auch online Vorschläge einreichen. In den kommenden Tagen soll die Bevölkerung bei drei regionalen Bürgerforen in Rüsselsheim, Gießen und Kassel zu Wort kommen. Kritiker bemängeln, dass diese Veranstaltungen Alibifunktion haben und der Großteil der sechs Millionen Einwohner im Flächenland Hessen faktisch keine Möglichkeit zur Teilnahme haben.

Während ein Gesamtentwurf der neuen Verfassung noch nicht veröffentlicht wurde, zeichnen sich immerhin vier Punkte ab, auf die sich alle fünf Landtagsfraktionen einigen könnten: die Abschaffung der (offensichtlich auf ranghohe NS-Verbrecher gemünzte) Todesstrafe, eine Erleichterung von Volksbegehren, die Absenkung des passiven Wahlalters für die Landtagswahl von 21 auf 18 Jahre und die Verankerung des Ehrenamts in der Verfassung. SPD und Linksfraktion möchten zudem gerne das Grundrecht auf Wohnen und kostenfreie Bildung in der Verfassung festschreiben, scheinen damit aber bei den anderen Parteien wenig Echo zu finden. Zumindest deuten Banzers Aussagen darauf hin, dass diese Vorschläge vermutlich am Widerstand der Parlamentsmehrheit scheitern könnte. Für den Abgeordnete Ulrich Wilken (LINKE) ist das enttäuschend. Insbesondere im dicht besiedelten Rhein-Main-Gebiet sei der Mangel an Wohnraum für Normal- und Geringverdiener zu einem brennenden Problem geworden.

Die Frage gebührenfreier Bildung hat in Hessen einen hohen Stellenwert. Hier beschloss 2008 eine Landtagsmehrheit aus SPD, Grünen und Linkspartei die Abschaffung der von der CDU-Regierung eingeführten Studiengebühren.

Die CDU ihrerseits würde auf Vorschlag von Kirchenvertretern gerne den Gottesbezug in die Verfassung aufnehmen.

Privatisierungskritiker sehen mit Argwohn, dass die Christdemokraten auch das Subsidiaritätsprinzip in die Landesverfassung aufnehmen wollen. »Aufgabe des Staates ist nur, was nicht durch die Gesellschaft geleistet werden kann«, lautet dem Vernehmen nach ein Textvorschlag - ein Satz, der die Herzen privater Kapitalbesitzer und Investoren höher schlagen lässt. Damit würden gewählte Volksvertretungen faktisch entmachtet. Hessen gilt auch in Sachen Privatisierung als bundesweiter Vorreiter. Allerdings hat die umstrittene Privatisierung der Universitätskliniken in Gießen und Marburg bislang keine Nachahmung gefunden.

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