Wer will schon nach Neukölln?!
Man sieht sich im Leben immer zweimal - an diese Redensart musste ich denken, als Aaron die Tür unserer Stammkneipe hinter sich schloss. Er werde wiederkommen, ließ er uns zuvor wissen und wir hatten pflichtschuldig auf ihn angestoßen.
Die Geschichte seines Abschiedes aus Wedding ist eine absurde. Zehn Jahre lebte er mit drei anderen Leuten in einer Wohngemeinschaft. Eine der Mitbewohnerinnen wollte vor einigen Monaten aus irgendwelchen Gründen ausziehen und teilte dies der Hausverwaltung schriftlich mit. Daraufhin schickte diese einen Brief an die drei anderen Mieter. Gründlich gelesen, so sagte Aaron, habe keiner von ihnen das Schreiben, aber es sah irgendwie so aus, als müssten sie mit ihrer Unterschrift bestätigen, dass sie mit dem Auszug der einen Mieterin einverstanden waren. Also unterschrieben sie und schickten das Schreiben wieder zurück.
Bis dahin schien die Geschichte harmlos zu sein, ein bürokratischer Vorgang, der so vielleicht nicht üblich war, aber niemand machte sich darüber ernsthaft Gedanken.
Eine Woche später erhielten sie retour den Kündigungstermin, da sie durch ihre Unterschrift der Kündigung der Wohnung zugestimmt hätten. Aaron und die anderen beiden Mieter fielen aus allen Wolken, stellten aber nach Prüfung der Rechtslage fest, dass sie nichts machen konnten.
Aaron vermutete eine Finte der Hausverwaltung, denn diese kann die Wohnung nun teurer vermieten. Die Mieterberatung ließ ihn wissen, er habe keine große Chance, wenn er klagt. Also fügte er sich in sein Schicksal und machte sich auf Wohnungssuche.
Drei Wochen später verkündete er am Tresen, dass er nach Neukölln ziehen werde. Die Miete sei teurer, sagte er. Er wäre gerne in Wedding, im Kiez geblieben, ließ er alle wissen, aber er habe nur ein Angebot für eine dunkle Erdgeschosswohnung bekommen und das wollte er nicht.
Neukölln, dachten sich manche am Tresen, da wird er nicht glücklich. Er werde wiederkommen, verkündete er, oder zumindest versuchen, ab und an mal vorbeizukommen. Ein frommer Wunsch, der nicht in Erfüllung gehen wird, glaubten einige, während sie mit ihm anstießen. Leute aus Neukölln, so waren sie überzeugt, Leute aus Neukölln besuchen nur einmal Wedding. Das tun sie, wenn sie mal was erleben wollen, ihren Kiez verlassen und eine Reise unternehmen. Danach kehren sie wieder zurück und erzählen, dass es da woanders ganz nett gewesen sei, aber zuhause sei es doch viel schöner. Aaron wird bald ein Neuköllner werden und genauso denken. Er wird eine neue Stammkneipe finden und dort seine Zeit verbringen, sagten sich manche und wünschten ihm viel Glück für die Zukunft.
Man sieht sich im Leben immer zweimal, hoffte ich dennoch, als ich mit ihm anstieß, und wenn er Wedding und diese Kneipe in sein Herz geschlossen hat, dann wird er früher oder später wieder den Weg hierher finden.
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