Teure PR, billiger Journalismus
Fabian Köhler über die mediale Verharmlosung Saudi-Arabiens in den deutschen »Qualitätsmedien«
Wussten Sie, dass Nordkorea kurz davor steht, zur Weltraumnation aufzusteigen? Wahrscheinlich nicht. Denn im Regelfall bewahren kritische Journalisten die Zeitungsleser vor solchen Jubelmeldungen größenwahnsinniger Diktatoren. Deren proklamierte Visionen schaffen es deshalb meist nicht über die eigenen, schlecht programmierten Regierungswebseiten hinaus. Anders verhält es sich mit Saudi-Arabien. »Vision 2030« heißt die Fantasie des dortigen Diktators. Doch anders als bei den aufgeblasenen Luftnummern der Kim Jong Uns, Rodrigo Dutertes oder Umar al-Bashirs dieser Welt erfährt man von den Plänen des saudischen Despoten Salman ibn Abd al-Aziz dank teuer eingekaufter PR-Firmen nicht nur auf ziemlich schicken Webseiten, sondern in letzter Zeit auch immer häufiger in Beiträgen echter Journalisten.
»Saudi-Arabien - viel besser als sein Ruf«. So lautet nicht der Titel einer Werbebroschüre des saudischen Tourismusministeriums, sondern eines Kommentars der »Tagesschau«. Casten Kühntopp stellte dort anlässlich der Kanzlerinnenreise nach Saudi-Arabien fest, dass sich »gerade bei der Rolle der Frauen viel verändert« habe. Der Grund: »Was mit der ›Vision 2030‹ angestoßen wurde, dürfte sich nur schwer wieder zurückdrehen lassen.« Was sich konkret verbessert haben soll, schreibt Kühntopp allerdings nicht. Könnte er auch nicht. Denn glaubt man kritischen Beobachtern wie Amnesty International ist die Umsetzung von »Vision 2030« bisher genauso weit fortgeschritten wie die erste nordkoreanische Mars-Mission. Kein einziges entsprechendes Gesetz habe es bisher gegeben, schreiben die Menschenrechtler.
Fabian Köhler schreibt in dieser Zeitung regelmäßig über Muslime und den Islam.
Ein einzelner verwirrter Kommentar macht nun noch keine schlechte Medienberichterstattung, mag man da einwenden. Stimmt, bliebe es denn bei dem einen. Denn im Sog der Kanzlerinnenreise scheinen beispielsweise auch bei »Spiegel« und »Spiegel Online« Saudi-Arabien-Themenwochen ausgebrochen zu sein. Eigentlich eine gute Sache, Anlässe gibt es schließlich genügend: die neuesten Waffendeals, die tausenden Toten in Jemen, die Unterstützung von Islamisten weltweit, die Verfolgung von Regimekritikern und Minderheiten im Land … Doch von all dem handelt kein einziger der Beiträge. Stattdessen fällt ein Stichwort in den Artikeln so zuverlässig wie das Schwert auf die Hälse saudischer Regimekritiker: »Vision 2030«.
Den Anfang machte am 30. April ein Interview mit Vizewirtschaftsminister Mohammad al-Tuwaijri. Den könnte »Spiegel online«-Chefreporter Matthias Gebauer zum Beispiel nach der Lage ausgebeuteter Arbeiter fragen. Oder danach, was mit den ganzen teuer eingekauften Waffen geschieht. Tut er aber nicht. Stattdessen Fragen, die wohl auch in einer Broschüre der deutsch-saudischen Wirtschaftskammer nicht auffallen würden: »In Europa hört man viel über Ihre Vision 2030. Die Reformagenda sieht vor, die saudische Wirtschaft und Gesellschaft zu öffnen.«
Eine Woche danach darf eine saudische Managerin im gedruckten »Spiegel« erneut die Vorzüge von »Vision 2030« erklären. Konkrete Informationen, inwieweit sich die Situation von Frauen, Minderheiten oder Oppositionellen verbessert habe, kann zwar auch sie nicht liefern. Stattdessen dient auch sie als Testimonial, dass es so schlimm nicht sei in dem Staat, der auf Rankings zu politischen und gesellschaftlichen Freiheiten einen der letzten Plätze belegt: »Wichtig ist, dass Menschen mit ihrem Leben zufrieden sind - und da werden Sie hier nicht viele Beschwerden oder Unmut finden.«
Den vermeintlichen Beleg für die Befreiung der saudischen Frau liefert stattdessen drei Tage später der »Spiegel Online«-Ableger »Bento« mit einer Meldung über die Abschaffung des saudischen Vormundschaftssystems. Davon, dass die einzige Quelle hierfür eine saudische Regierungswebsite ist, die die Irreführung schon im Namen trägt (»Saudische Menschenrechtskommission«), erfährt der Leser allerdings nichts. Und auch nichts von dem Wandel, der sich in Saudi-Arabien jenseits von Hochglanz-PR und Billigjournalismus tatsächlich vollzieht: Menschenrechtsverletzungen nehmen in Saudi-Arabien nicht ab, sondern zu, berichtete Amnesty International kürzlich. Stattdessen erfährt der Leser auch im »Spiegel« in einer langen Reportage über vermeintliche saudische Freiheiten, dass die Vision 2030 »fundamentale Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft vorsieht«.
Die erste Mondlandung Nordkoreas ist übrigens für das Jahr 2025 vorgesehen.
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