Leserbriefe werden zum Verfahrenshindernis

Prozessauftakt gegen den U-Bahn-Treter Svetoslav S. nach wenigen Minuten unterbrochen

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: 3 Min.

S. wirkt abwesend, verschüchtert, so, als ginge es nicht um seine Tat. Er scheint nicht zu erfassen, was da um ihn herum geschieht. Ein gigantischer Medientross hat sich zum Auftakt des Prozesses gegen ihn eingefunden. Er ist der gefährlichen Körperverletzung und exhibitionistischer Handlungen angeklagt. Wäre es bei einer einfachen Polizeimeldung geblieben, vermutlich hätte kaum jemand vom Geschehen Notiz genommen. Durch die Überwachungskameras in U-Bahnen ist die Tat öffentlich geworden, erreichte das kalte, gefühllose Vorgehen ein Millionenpublikum. Immer und immer wieder konnte man auf den Bildschirmen sehen, wie der Täter einer Frau mit voller Wucht in den Rücken trat und sie die Treppe hinunterstürzte. Es blieb beim Schreck und einen Knochenbruch. Es hätte viel, viel schlimmer ausgehen können. Der Mann verschwand mit einer Bierflasche in der Hand, ohne sich um das Opfer zu kümmern. Zusammen mit einer Gruppe Jugendlicher. Dank Videoüberwachung konnte der Täter identifiziert und später gefasst werden. Die Kameras haben ihn nicht von der Tat abgehalten, ermöglichen aber nun, ihn juristisch zur Verantwortung zu ziehen. Nach der Tat tauchte S. unter und verschwand in Richtung Frankreich, kehrte aber mit einem Linienbus nach Berlin zurück, wo er von der Polizei in Empfang genommen wurde.

Zur Befragung des Angeklagten und der Verlesung der Anklageschrift kam es nicht. Die beiden Verteidiger stellten einen Befangenheitsantrag gegen eine Schöffin. Es bestehe die Gefahr, so die Verteidigung, dass die ehrenamtliche Richterin nicht in der Lage sei, objektiv in diesem Fall zu urteilen. Sie hat sich wohl in Vergangenheit als aktive Leserbriefschreiberin für den »Tagesspiegel« betätigt. Das könnte ihr nun zum Verhängnis werden.

Die Lesermeinungen liegen schon Jahre zurück, doch bergen sie genügend Sprengstoff für das aktuelle Verfahren. In einem Brief soll sie zu einem Vorfall 2011 Stellung bezogen haben, als es zu einem Streit zwischen dem Grünen-Politiker Özcan Mutlu und einem Wurstbuden-Besitzer am Brandenburger Tor kam. Die Schöffin soll dies als »gespielten Türkenwitz« bezeichnet haben. In einem zweiten Brief ging es um den mysteriösen Tod der Jugendrichterin Kirsten Heisig 2010, die sich für konsequenteres Vorgehen gegen kriminelle Jugendliche engagiert hatte. Damit sei die Schöffin nicht in der Lage, objektiv über den Angeklagten zu urteilen, erklärten die Verteidiger des 28-jährigen, nur türkisch sprechenden Roma mit bulgarischem Pass, Svetoslav S. Das Gericht unterbrach die Verhandlung.

Das Opfer der Attacke war zum Prozessauftakt nicht erschienen. Als Nebenklägerin hätte sie an dem Prozess teilnehmen dürfen. Doch sie wünsche keinen Kontakt zu den Medien, ließ ihre Anwältin verlauten. Deshalb wird sie beim nächsten Prozesstag nur als Zeugin aussagen.

Viel ist über Svetoslav S. nicht bekannt. Er soll Familienvater dreier Kinder sein, ein tristes Leben geführt haben, in Bulgarien mehrfach kriminell in Erscheinung getreten und schließlich in Berlin gestrandet sein. Treten und getreten werden scheinen bisher sein Leben bestimmt zu haben. Nur so ist diese hinterhältige Attacke an einen ihm völlig fremden Menschen zu erklären. Schwere Körperverletzung kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren geahndet werden. Das Gericht kann durchaus zu dem Ergebnis kommen, dass es sich hier um versuchten Totschlag handelt. Das Urteil soll am 6. Juli gesprochen werden.

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