»Moralische Problemstellung« nicht erkannt

Scharfe Kritik an Polens Regierungschefin nach Rede in Auschwitz / Szydlo sprach über »Sicherheit der Bürger«

  • Wojciech Osinski, Warschau
  • Lesedauer: 4 Min.

»Skandal in Auschwitz! Beata Szydlo nutzt den Holocaust für Hetze gegen Flüchtlinge«, empörte sich am Donnerstag die Wochenzeitschrift »News-week Polska«. Mit einigen waghalsigen Äußerungen hatte die polnische Ministerpräsidentin am Mittwoch bei einer Gedenkfeier im früheren NS-Vernichtungslager Birkenau eine mediale Welle der Entrüstung ausgelöst, die rasch über die nationalen Grenzen schwappte.

Die selbst aus Oswiecim (Auschwitz) stammende Szydlo hat betont, Auschwitz sei in den »heutigen turbulenten Zeiten« eine »große Lehre«, so dass alles getan werden müsse, um gegenwärtig »die Sicherheit und das Leben unserer Bürger zu verteidigen«. Kritiker unterstellten daraufhin der Regierungschefin, sie habe die Opfer der nationalsozialistischen Gräueltaten für ihre Migrationspolitik instrumentalisiert. Polen, Tschechien und Ungarn weigern sich seit Monaten, das 2015 einvernehmlich festgelegte Relocation-Verfahren zur Verteilung in der EU angekommener Flüchtlinge mitzutragen. Die EU-Kommission hat deshalb unlängst ein Verfahren gegen die drei Visegrád-Staaten eingeleitet.

Szydlos Auschwitz-Rede hat auch in der polnischen Kulturszene für tumultartige Reaktionen gesorgt. Laut dem Schriftsteller Jacek Dehnel ließ sich die Premierministerin am Mittwoch zu einer verbalen Entgleisung hinreißen, die nicht nur der »moralischen Problemstellung« des historischen Sachverhalts gerecht wird, sondern auch der »intellektuellen Reichweite« eines solchen Amts entbehrt. Der polnische Lyriker vergleicht die Wortwahl der Politikerin von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) gar mit Nazi-Propaganda.

SS-Führer Heinrich Himmler habe stets betont, dass er mit dem Bau von Konzentrationslagern das »deutsche Volk vor fremden Eindringlingen schützen« wolle, so Dehnel. Warschau verweigert nun die vom Vorgängerkabinett von Ewa Kopacz zugesagte Aufnahme von ca. 7000 Flüchtlingen und begründet das mit »Sicherheitserwägungen«. Regierungssprecher Rafal Bochenek sprach im Hinblick auf die Umverteilung von Migranten aus dem Nahen Osten immer wieder von einer »Bedrohung für die Sicherheit Polens«.

Nun sieht er die im In- und Ausland vielzitierten Anmerkungen seiner Vorgesetzten »aus dem Kontext gerissen«. »Unsere Gegner erkennen nahezu in jeder Regierungserklärung böse Absichten«, sagt Bochenek. Kritik kam prompt auch vom EU-Ratspräsidenten, dem ehemaligen polnischen Regierungschef Donald Tusk: »Derartige Worte sollten niemals an einem solchen Ort von einem polnischen Premier ausgesprochen werden«, sorgt er sich via Twitter. Der Eintrag Tusks hat wiederum eine Lawine von Kommentaren in regierungsnahen Medien losgetreten. »Tusk missbraucht erneut sein neutrales EU-Amt, um sich in die polnische Innenpolitik einzumischen und Europa zum Kampf gegen sein Heimatland aufzurufen«, meint Stanisław Janecki vom Nachrichtenportal »wPolityce.pl«. Ungerecht behandelt wurde Szydlo auch aus Sicht der Zeitung »Gazeta Polska«. »Die Ministerpräsidentin hat doch nur erwähnt, dass totalitäre Systeme kein Recht hätten, über Menschenleben zu bestimmen. Wo bitte ist der Passus über Migranten? Warum nutzt Tusk nicht die internationale Bühne, um auch die Erfolge der PiS zu benennen, sondern meldet sich nur dann zu Wort, wenn er aus einer Mücke einen Elefanten machen muss?«, wundert sich Samuel Pereira. »Szydlo sprach am Jahrestag der ersten Nazitransporte polnischer Häftlinge. Das ist unser Tag. Ist die Entrüstung im Ausland nur deshalb so groß, weil unsere Kabinettschefin über ›Deutsche‹ sprach und nicht über ›Nazis‹?«, fragt Pereira weiter.

In die gleiche Kerbe haut Tomasz Wróblewski: »Jedes Jahr reden bei Gedenkfeiern in Oswiecim israelische Regierungsvertreter von ›Sicherheitsrisiken‹ für Israel. Einer polnischen Regierung ist dies am selben Ort offenbar nicht vergönnt«, schreibt der frühere Chefredakteur der Wochenzeitung »Wprost«.

Interessant sind auch die Reaktionen der jüdischen Gemeinde in Polen, die sich aus dem politischen Ränkespiel getrost heraushält. »Ich habe Frau Szydlo aufmerksam zugehört und finde, sie hat die richtigen Worte am richtigen Ort gewählt. Die polnischen Bürger müssen geschützt werden. Das hat die Regierung Zwischenkriegspolens nicht geschafft, und dies darf sich nicht wiederholen. Ich kann hier keinen Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik der PiS erkennen, über die man sich ja streiten kann. Das Kesseltreiben gegen Szydlo ist in diesem Fall einfach unanständig«, meint Pawel Jedrzejewski vom Forum der Polnischen Juden.

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