Nach dem Grenfell-Feuer: Die Wut wächst
Feuerfeste Fassadendämmung hätte nur zwei Pfund pro Panel mehr gekostet / Trauer um wahrscheinlich fast 60 Tote / Dutzende Menschen immer noch vermisst
Berlin. Nach der Brandkatastrophe in London wächst die Wut über die Behörden, über die Regierung, über ein Kostendenken, das vermutlich 58 Menschenleben forderte, wie die Polizei am Samstag erklärte. Tausende haben inzwischen an Demonstrationen in der britischen Hauptstadt teilgenommen. Hunderte Demonstranten versammelten sich am Freitag vor dem Rathaus im Bezirk Kensington und Chelsea und forderten Antworten von den Behörden im Zusammenhang mit der Brandkatastrophe. Dutzende trommelten gegen die Scheiben und verlangten Einlass. Einige schafften es, in das Rathaus einzudringen, wo sich ihnen Polizisten und Sicherheitskräfte entgegenstellten. Angehörige von Vermissten und Opfern riefen »Wir wollen Gerechtigkeit«, »schämt Euch!« und »Mörder!« Auf Bannern und Plakaten stand »Gerechtigkeit für Grenfell! Wir fordern die Wahrheit«. Auch Slogans wie »Werft die Tories raus!« und »Trotzt der Tory-Herrschaft« waren zu lesen.
Die Ursache für den Brand war weiter unklar, doch verstärken sich Vermutungen, sie könne mit der jüngsten Renovierung des 24-stöckigen Gebäudes zusammenhängen. Das Hochhaus aus den 1970er Jahren wurde bis zum vergangenen Jahr für umgerechnet 9,9 Millionen Euro aufwändig renoviert. Vor allem die Fassade wurde saniert und gedämmt. Dabei wurden aber unsichere Bauteile benutzt. In den Medien wurden immer mehr Details zu der Fassadenverkleidung bekannt, die in ihrer nicht feuerresistenten Form für Gebäude von mehr als zwölf Metern Höhe in den USA demnach verboten ist.
Minister: »Etwas ist drastisch falsch gelaufen«
Immer wieder wird auf eines hingewiesen: Mit nur geringfügig höheren Investitionen hätte die Katastrophe wohl verhindert werden können. Bei der Fassadenverkleidung handelt sich um Aluminium-Panele namens Reynobond der US-Firma Arconic. Mit Kunststofffüllung koste sie 24 Pfund (27 Euro) und sei damit nur zwei Pfund billiger als die feuerfeste Variante, berichtete die »Times«. Der linke Europaabgeordnete Fabio De Masi sagte, »sie sind gestorben, weil sie arm waren«. Der Brand zeige, wie die »Gier nach Gewinn tötet«.
Der »Daily Telegraph« zitierte einen Brandschutzexperten, wonach die Panele wie ein »Windkanal« gewirkt hätten. Die Fassade mit ihren Höhlräumen habe »wie ihr eigener Kaminzug gewirkt«, sagte Arnold Turling. Wie die Zeitung weiter berichtete, hatte das Gebäude zudem keine zentrale Sprinkler-Anlage und keine Feuerschutztüren.
Der Minister für Gemeinden und Kommunalverwaltung, Sajid Javid, sagte dem Rundfunksender BBC: »Etwas ist hier falsch gelaufen, etwas ist drastisch falsch gelaufen.« Ähnliche Gebäude würden nun auf vergleichbare Gefahren hin untersucht, vor allem hinsichtlich der Außenverkleidung.
Viele Menschen geben nach dem Unglück nun auch den Behörden eine Mitschuld. Berichten zufolge lebten zwischen 400 und 600 Menschen in dem 24 Stockwerke hohen Sozialbau. In dem Gebäude war am Mittwoch ein gewaltiges Feuer ausgebrochen. Wie viele Opfer der Brand hinterlässt ist aber noch unklar.
Der Bürgermeister der britischen Hauptstadt bringt unterdessen den Abriss von veralteten Gebäuden ins Gespräch. Dies könne bei Hochhäusern aus den 60er und 70er Jahren aus Sicherheitsgründen nötig werden, schrieb Sadiq Khan in einem Beitrag für die Sonntagszeitung »The Observer«. In der Wiederaufbauphase nach dem Krieg seien viele Hochhäuser entstanden, die heutigen Standards nicht mehr entsprächen, so Khan.
Verzweifelte Suche nach Vermissten
Viele Menschen werden Medienberichten zufolge noch vermisst. Ob einige von ihnen unter den bereits geborgenen Toten waren, war unklar. Die Polizei warnte, dass manche Leichen möglicherweise nie identifiziert werden könnten. Verzweifelte Angehörige und Freunde machten mit Fotos rings um die Brandruine auf Vermisste aufmerksam. »Ich bete, dass sie in einem Krankenhaus sind«, sagte eine Frau namens Choucair, die auf ein Lebenszeichen ihrer Mutter und der Familie ihrer Schwester hoffte. Sie habe in der Nacht des Brandes kurz mit ihrer Schwester telefoniert. »Ich hörte Menschen schreien und rufen. Ich weiß nicht, wo sie sind.«
Dutzende Menschen wurden von der Feuerwehr aus den Flammen gerettet, anderen gelang selbst die Flucht. Freunde und Verwandte suchen mit Postern und in den sozialen Medien zunehmend verzweifelt nach Vermissten. 24 Menschen wurden am Freitag noch in Krankenhäusern der britischen Hauptstadt behandelt. Die Lage von 12 Patienten sei derzeit kritisch, teilte die Gesundheitsbehörde mit.
Als Antwort auf die Proteste veröffentlichte die Bezirksverwaltung von Kensington und Chelsea am Abend eine Stellungnahme. Darin sicherte sie den obdachlos gewordenen Bewohnern eine schnellstmögliche Umsiedlung innerhalb des Stadtteils zu. Finanzielle Hilfe für die Opfer sei bereits auf dem Weg. Mehrere Tausend Menschen nahmen unterdessen an einer Solidaritätskundgebung für die Brandopfer im Regierungsbezirk Westminster teil. Mit Bannern und Plakaten versammelten sie sich zunächst vor dem Ministerium für Kommunen. Die Behörde ist unter anderem für den Wohnungsbau verantwortlich. Dann zogen sie weiter Richtung Downing Street und skandierten »May muss gehen!«. Die Demonstration stand unter dem Motto »Justice for Grenfell!«
Regierung May versucht sich herauszureden
Die Wut auf Regierung und Behörden in Großbritannien war auch am Wochenende noch groß. Vize-Premier Damian Green wies am Samstagmorgen Vorwürfe zurück, Premier Theresa May habe nicht angemessen auf das Unglück reagiert. »Sie ist von den Ereignissen genauso bestürzt wie wir alle«, sagte Green der BBC. Die Regierung werde in den kommenden Tagen einen Vorsitzenden für die öffentliche Untersuchung des Brandes bestimmen.
Zuvor war May als »Feigling« beschimpft worden, als sie aus einer Londoner Kirche in der Nähe des Brandorts kam. Dort hatte sie den Opfern Hilfe in Millionenhöhe versprochen. Bei einem Fernsehinterview am Freitagabend hatte eine Journalistin May wiederholt gefragt, ob sie die Wut im Land nicht begriffen habe. Kritiker hatten May vorgeworfen, nicht schnell genug auf das Unglück reagiert zu haben. Außerdem hatte sie bei einem Besuch am Grenfell Tower am Donnerstag nicht mit den Opfern gesprochen. Der Oppositionsführer und Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte derweil Betroffene getröstet. Agenturen/nd
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.