»Ein Viertel der Regierung fällt «

Ministerrücktritte zwingen Frankreichs Präsidenten zu umfassender Regierungsumbildung

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Eigentlich ist die traditionelle Regierungsumbildung nach der Parlamentswahl in Frankreich nur eine Formsache. Auch dieses Mal sah es zunächst so aus. Schließlich waren die sechs Minister, die sich den Wählern gestellt hatten, alle gewählt worden, niemand musste aus Mangel an Legitimität zurücktreten.

Trotzdem haben jetzt vier Minister ihr Amt niedergelegt - und Präsident Emmanuel Macron hat seine erste Regierungskrise. Dabei ist er erst seit wenigen Wochen im Amt. Den Anfang machte am Montag der Minister für den territorialen Zusammenhalt, Richard Ferrand. Der ehemalige Sozialist ist einer der ersten Mitkämpfer von Macron und war bis zur Parlamentswahl Generalsekretär der Bewegung En Marche.

Über ihn hatten die Medien herausgefunden, dass er vor Jahren als Chef einer Krankenzusatzkasse in der Bretagne ein Gebäude angemietet hat, das seine Lebensgefährtin für diesen Zweck gerade erst gekauft hatte - noch dazu preisgünstig aus einer Konkursmasse. Außerdem hat Ferrand einige Monate lang seinen minderjährigen Sohn als parlamentarischen Assistenten beschäftigt. Das war nicht rechtswidrig, aber es ist moralisch fragwürdig. Da sich die Justiz inzwischen dafür interessiert und um einem erzwungenen Rücktritt wegen eines Ermittlungsverfahrens aus dem Weg zu gehen, ist Ferrand lieber gleich selbst zurückgetreten. Jetzt ist er der aussichtsreichste Bewerber um den Posten des Fraktionsvorsitzenden der Bewegung En Marche in der Nationalversammlung.

Dienstag trat dann überraschend Verteidigungsministerin Sylvie Goulard zurück und Mittwochfrüh folgten Justizminister François Bayrou und Europaministerin Marielle de Sarnez. Damit sind alle drei Minister der kleinen von Bayrou geführten Zentrumspartei MoDem zurückgetreten. Das kam nicht ganz überraschend. Seit Tagen hatte sich der Verdacht verdichtet, dass MoDem Mitarbeiter von EU-Parlamentsabgeordneten in Wirklichkeit für Parteiaufgaben einsetzte. Das würde eine Veruntreuung von EU-Mitteln bedeuten. Dasselbe wird der Front National vorgeworfen. Bei der FN hat sich dieser Verdacht bereits erhärtet, MoDem behauptet noch, alles sei rechtens verlaufen - was aber durch die Aussagen von beteiligten Personen in den Medien widerlegt wird. Die französische Justiz hat Vorermittlungen eingeleitet.

Um einem erzwungenen Rücktritt zuvorzukommen, traten die drei die Flucht nach vorn an. Marielle de Sarnez hat in diesem Zusammenhang ihre Kandidatur für den Vorsitz der MoDem-Fraktion angemeldet. Mit ihren 42 Abgeordneten hat MoDem Anspruch auf eine eigene Fraktion. Das verleiht ihr eine größere Rolle an der Seite der die Regierung tragenden Bewegung En Marche von Macron.

Als Parteigründer Bayrou im Februar erklärte, dass er auf eine eigene Präsidentschaftskandidatur verzichtet und Emmanuel Macron unterstützt, hat diesem mehr das Prestige des Zentrumspolitikers als dessen überschaubare Anhängerschaft geholfen.

Erinnert sei daran, dass Bayrou im April bei der Aufstellung der En Marche-Parlamentskandidaten medienwirksam seine Verärgerung zum Ausdruck brachte, weil man seiner Partei zu wenig sichere Wahlkreise zugebilligt hatte. Macron lenkte ein, so dass die kleine MoDem-Partei im Parlament nun deutlich überrepräsentiert ist. Bayrou dürfte die nutzen, um von Fall zu Fall über die Billigung eines vom Präsidenten initiierten Gesetzesentwurf zu entscheiden.

En Marche hat mit 308 Sitzen in der Nationalversammlung eine komfortable Mehrheit. Das muss aber nicht so bleiben. So dürfte Macron gut beraten sein, Bayrou und seine MoDem nicht zu ignorieren. Am Mittwoch blieb indes zunächst unklar, ob neue MoDem-Politiker zu Ministern ernannt werden. Unterdessen haben sich im Streit über eine Zusammenarbeit mit Macron die konservativen Republikaner in der Nationalversammlung gespalten. Der Abgeordnete Thierry Solère gab am Mittwoch die Gründung einer »konstruktiven« Fraktion bekannt, die in manchen Fällen für Macrons Vorhaben stimmen könnte.

Die Ministerrücktritte provozierten scharfe Reaktionen der Opposition. Der Vize-Vorsitzende der Republikaner, Laurent Wauquiez, sprach von einer »großen Regierungskrise und einem politischen Skandal«. »Ein Viertel der Regierung fällt«, sagte er.

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