Sie klauen uns unseren Kohl!

Der Altkanzler wird mit einem »europäischen Staatsakt« geehrt. Das passt vielen nicht. In der Empörung darüber wohnt das Reaktionäre. Ein Kommentar

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 5 Min.

Man kann die Idee, für Helmut Kohl einen europäischen Trauerakt zu organisieren, aus manchen Gründen für falsch halten. Etwa, weil die Phrase vom »Großen Europäer« überdeckt, dass der Altkanzler mitverantwortlich für das ökonomische »Wie« einer marktkonformen EU-Integration zu machen ist, selbst wenn man konzediert, dass in seinem »Ob« noch ein Maß europäischen Denkens aufgehoben war, dass Leuten wie dem deutschen Austeritätskommissar Schäuble offenbar abgeht. Immerhin: Der nun verstorbene CDU-Mann hatte eine Antenne für die Notwendigkeit politischer Vertiefung. Dass diese auch zu seiner Amtszeit immer hinter den »Marktfreiheiten« zurückblieb, ist allerdings wahr.

Was nun aber als Klage öffentlich gemacht wird darüber, dass ein deutscher Kanzler »in einer französischen Grenzstadt« zeremoniell verabschiedet werden soll, hat eine andere Schlagseite. Der »Schwarze Riese« wird da zu einem symbolischen »Körper« erklärt, in dem eine nationale Institution irgendwie fortleben soll, die nun außer Landes geschafft werde - sie klauen uns unseren Kohl, unseren Kanzler!

In der Empörung liegen gleich mehrere reaktionäre Momente, und dies in einer Deutlichkeit, die an die 1950er Jahren erinnert - da war der Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer, der diesen Zweig der aktuellen Kohldebatte beispielhaft ausdrückt, noch nicht einmal geboren.

Erstens eine deutsche Selbstüberhöhung, die nicht nur in dem altbackenen Dünkel sich Raum schafft, anderen »keine Vorstellung von Begriffen wie Nation und Heimat« vorzuwerfen. Vielleicht haben die Leute ja zu Recht keine Vorstellung davon, weil es eine Chimäre ist, eine ideologische Idee, eine Erzählung zu irgendeinem Zwecke? Oder vielleicht haben sie ja nur eine andere Vorstellung als Fleischhauer?

Zweitens liegt darinnen eine Prise antifranzösisches Ressentiment, der Kanzler wird »über die Grenze« geschickt, ein Denken, das Kohl, der die Trikolore dreimal zu grüßen wusste, streng zurückgewiesen hätte. Drittens klingt da eine überhebliche Geringschätzung von europäischen Institutionen an, die sich ausgerechnet gegen das Parlament wendet, jenes der EU-Symbole, das noch die im europäischen Sinne demokratischste Legitimation hat.

Kohls Europa: Erbe in Gefahr?
Tom Strohschneider im Deutsche-Welle-Talk mit Ursula Weidenfeld, Friedrich Thelen und Hajo Schumacher

In vielen Kommentaren wird nun auch auf die Rolle von Maike Kohl-Richter verwiesen - und das bisweilen auf eine ebenso reaktionäre Weise, eine, in der Frauen, zumal quasi »unechte« Gattinnen, Pläne aushecken, sich »willige Helfer« - den EU-Kommissionspräsidenten! - für ihre »Manöver« aussuchen, bei denen es sich natürlich um »gezielte« handelt, womöglich stecken ja noch irgendwelche Mächte dahinter!

Den Wunsch der Witwe, über deren Agieren man denken mag wie man will, gibt es da nur noch in Anführungszeichen - es ist eben nur ein angeblicher, ein so genannter Wunsch. Die Frau wird beiläufig zu einer antinationalen Gegenfigur erklärt, die »den Deutschen das letzte Geleit und damit die öffentliche Trauer zu verweigern« trachtet. Danach kann in diesem Denkkosmos eigentlich nicht mehr viel kommen, außer Hochverrat und das Verbrennen nationaler Wimpel.

Man beginnt fast, den alten Kohl zu bedauern für derlei unerbetene Inanspruchnahme. Wo der »Kanzler der Einheit« gegen den »Großen Europäer« in Stellung gebracht wird, muss vorher auch der historische Kontext entsorgt werden - denn ohne den Euro, den Fleischhauer als »besonders fragwürdig« bezeichnet, von dem sich die deutschen Nachbarstaaten seinerzeit aber eine integrierende, eine zähmende Wirkung versprachen, wenn auch leider vergeblich, hätte es auch kein so schnelles Ja zur deutschen Einheit gegeben.

Wo auf dem Begriff »Staatsakt« herumgeritten wird, weil ein solcher mangels europäischer Staatlichkeit nicht angebracht sei, wird auch eine frühe europapolitische Intention aus dem symbolischen Körper Kohl herausoperiert, um ihn zu nationalen Zwecken in Dienst zu nehmen.

In den frühen 1980er Jahren, Kohl war gerade Kanzler und gab europapolitisch Gas – jedenfalls für damalige Verhältnisse. Es war die Zeit, in der unter Federführung des italienischen Antifaschisten Altiero Spinelli ein Verfassungsentwurf ausgearbeitet wurde, der den radikalen Umbau der damaligen EG zu einer föderal organisierten Europäischen Union vorsah.

Kohl dachte damals auch über die von FDP-Außenminister Hans-Dietrich Genscher 1981 mit seinem italienischen Amtskollegen Emilio Colombo vorgestellten Überlegungen hinaus - eine »Europäische Akte« war für ihn, so schreibt es kein linker Kohlbeobachter, sondern die Konrad-Adenauer-Stiftung, war also für den CDU-Mann »keinesfalls bereits die finalité politique der europäischen Integration«. Er habe sie »lediglich als Vorstufe zur Vollendung der ›Vereinigten Staaten von Europa‹ begreifen« wollen.

Es hat schon etwas Tragisches, dass man sich genötigt fühlen muss, ausgerechnet diesen Kanzler gegen solche Erbschleicher wie Fleischhauer zu verteidigen. Mögen sie nun weiter aus ihrer ins Jetzt versetzten Vergangenheit sich empören. Dass auf Helmut Kohls Sarg am Ende eine Europaflagge liegen wird und keine andere - wenn schon nicht dem Altkanzler selbst, man müsste denen dafür dankbar sein, die dies nun ermöglichen.

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