NDR-Sachbuchliste: Ein Fiasko schon seit 20 Jahren

Rudolf Walther über fragwürdige »Sachbücher des Monats«, lesefaule Juroren und die Rehabilitierung der »Konservativen Revolution«

  • Lesedauer: 4 Min.

Das aus dem Nachlass des Historikers Rolf Peter Sieferle (1949 bis 2016) publizierte Buch »Finis Germania« hat viel Aufsehen erregt, weil der ehedem linke Autor darin rechtsradikale Ressentiments bedient. Das Buch erschien im notorisch rechten Antaios Verlag des AfD-Sympathisanten Götz Kubitschek. Zum Aufreger wurde das Buch allerdings nur, weil es in die Liste »Sachbücher des Monats« aufgenommen wurde. Diese Liste wird vom NDR Kultur organisiert und einige Zeitungen drucken die Liste ab – zum Wohlgefallen von Verlagen und Buchhändlern. Als die Platzierung des Buches bekannt wurde, explodierten zuerst die Absatzzahlen und dann kam Bewegung auf unter den Jurymitgliedern. Die Jury besteht aus rund zwei Dutzend Sachbuchredakteuren, Journalisten und Wissenschaftlern.

Und damit beginnen Probleme, die über den Fall hinaus weisen. Das Zustandekommen der Jury ist gelinde gesagt sehr obskur. Wer in die Jury aufgenommen wird, ist so undurchsichtig wie dessen Verweildauer. Einige Mitglieder blieben in der Jury, obwohl sie längst mit Sachbüchern nicht mehr viel zu tun hatten. Andreas Wang war bis 2010 Redakteur beim NDR und übernahm die Koordination der Jury. Danach war er Vorsitzender der Jury und freier Mitarbeiter beim NDR.

Im Gegensatz zu dem, was das Wort Jury bedeutet, hat die Sachbuchjury ein geradezu archaisches Reglement für ihre Arbeitsweise. Im Prinzip bestand es aus zwei Regeln. Jeder Juror kann pro Monat 20 Punkte vergeben, die er auf drei bis vier Bücher verteilen sollte, die er für würdig hält, in die Liste aufgenommen zu werden. Und zweitens sollten sich die Juroren nicht gegenseitig absprechen, für welche Bücher sie wie viele Punkte abgeben. Ob es Absprachen unter Juroren gab, weiß man nicht. Kollegialer »Meinungsaustausch« ist alltäglich. In der Einfachheit der beiden Regeln liegt die Korruptionsanfälligkeit des ganzen Verfahrens. Hinzu kam das Fehlen jeglicher Kontrolle darüber, ob die rustikalen Regeln eingehalten wurden. Die Arbeitsweise der Jury ist ebenso Privatsache wie die Frage, wie viel Sachbücher ein Sachbuchredakteur oder Wissenschaftler pro Monat zu lesen imstande ist. Von einem Jurymitglied ist bekannt, dass es jeweils nur für ein Buch eine unbekannte Menge von Punkten vergab. Wie der Rest der Jury den monatlichen Bücherberg bewältigte, ist unklar. Man darf getrost vermuten, dass sie ihre Punkte gelegentlich nach der Lektüre von Rezensionen vergaben.

Dass Sieferles Buch jetzt auf Platz neun in die Liste gelangte, liegt daran, dass der »Spiegel«-Redakteur Johannes Saltzwedel dem Machwerk regelwidrig alle 20 Punkte zuschanzte. Noch bevor er das öffentlich eingestand, erklärten Jens Bisky von der »Süddeutschen Zeitung« und andere Jurymitglieder ihren Austritt, was den NDR dazu bewog, die Liste einzustellen – zum Bedauern von Verlagen und Buchhandlungen.

Die Liste hat von Anfang an wenig Vertrauen verdient. Das Fiasko wurde schon vor 20 Jahren offenbar. Der Autor erinnert und wundert sich immer noch: Mitte der 1990er Jahre bat ihn ein Jurymitglied, die einzige jährliche »Sitzung« des Gremiums am Rande der Frankfurter Buchmesse zu besuchen, weil er selbst verhindert war. Ich ging hin und staunte. Kein einziges der etwa zehn anwesenden Jurymitglieder fragte mich, was ich in diesem Kreis zu suchen hätte. Soweit ich mich erinnere, ging es in der »Sitzung« nur um Termine.

Einige Monate nach der Buchmesse besprach ich 1996 »Die Konservative Revolution« (Verlag S.Fischer 1995) von Rolf Peter Sieferle. Das Buch enthält Porträts von Ernst Jünger, Oswald Spengler, Werner Sombart, Paul Lensch und Hans Freyer. Revisionen im Stil von Ernst Nolte, zu dessen Schülern Sieferle zählte, kamen damals auch bei Teilen des akademischen Nachwuchses in Mode. Dem Nationalismus sollten die Zähne gezogen werden, indem man dessen Nähe zum Nationalsozialismus kappte. Sieferle ging es um die Rehabilitierung der »Konservativen Revolution«. Meine Besprechung in der »Frankfurter Rundschau« (FR) vom 19.2.1996 endete mit einem Satz, dem außer der damaligen FR-Sachbuchredakteurin nur wenige Kollegen zugestimmt hätten: »Aber die Jury, die Sieferles Buch in die Sachbuch-Bestenliste der ›Süddeutschen Zeitung‹ hochlobte, sollte gelegentlich über ihre Aufgabe und Funktion ebenso nachdenken wie das Lektorat des Fischer-Verlags, wo das Machwerk erschienen ist.« Bei manchen dauert es mit dem Nachdenken etwas länger.

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