Nachtzug nach Kasan
ConfedCup-Besucher kommen in den »Fanzügen« umsonst zu den Spielorten. »nd« fuhr mit
So ausgeschlafen und gut gelaunt wie an diesem Mittwochmorgen ist der nd-ConfedCup-Reporter selten während dieses Turniers zu erleben gewesen: Aus dem Teeglas dampft es, der Laptop ist aufgeklappt und vorm Abteilfenster wechseln sich sonnenbeschienene Hügel, rauschende Birkenwälder und verschlafene Dörfer ab. Regelmäßig lässt der Lokführer das Horn ertönen, was die drei Mitreisenden aber nicht aus dem tiefen Schlaf reißt. Russland, 10 Uhr, irgendwo im Westen: Guten Morgen aus dem Sonderzug nach Kasan!
In der Nacht bin ich um 0:50 Uhr am Kasaner Bahnhof eingestiegen in den Zug »172M«. Schon die mitternächtliche Suche nach dem Bahnhof kann für einen Moskau-Neuling wie mich ein kleines Abenteuer sein: Wer aus dem U-Bahnhof »Komsomolskaja« kommt, muss unter drei Fernbahnhöfen den richtigen finden. Hier liegen Jaroslawer, Leningrader und Kasaner Bahnhof - direkt nebeneinander. Falls Sie mal selbst suchen müssen: Der »Kasanskij Woksal« ist der mit dem höchsten Turm.
265 Extrazüge setzt die russische Staatsbahn »RZD« beim Confederations Cup auf die Schienen - und jeder, der eine Eintrittkarte hat, darf damit zu den Spielorten und auch von ihnen zurück fahren. Kostenlos, alle. Sogar Journalisten aus Berlin.
Auf einer Internetseite muss man dazu seinen Namen und seine Ticketnummer eingeben, dann darf man sich seinen Platz in einem der Abteile aussuchen. In einem Land, in dem Zugreisen nicht in Stunden, sondern in Tagen bemessen werden, sind es natürlich Liegewagen, die die Fans befördern. Klassische Viererabteile, enge Liegen, olle Decken. Aber immerhin: frische Bettwäsche!
In den 13 silbernen Waggons des Fanzuges sind die Betten gut gebucht: Vor den Absperrgittern zu Gleis 4 sammelt sich eine bunte Schar Reisender im fahlgelben Schein der Laternen. Hauptsächlich Russen, erstaunlich viele Frauen darunter, dazu portugiesische Touristen mit müden Gesichtern und ein paar Dutzend Chilenen in roten Trikots. Chilenen! Laut Ticketverkäufen bilden sie bei diesem Turnier die größte ausländische Anhängerschaft. Mir fällt ihr berüchtigtes »Chi-Chi-Chi! Le-le-le!« ein, mit dem sie bei der WM 2014 Einheimische und WM-Gäste genervt hatten. Mich unter anderem. Hoffentlich wird es hier nicht so schlimm!
Als die Fans aufs Gleis dürfen, sortiert sich alles schnell: An jeder Tür steht eine Schaffnerin und heißt ihre Gäste willkommen. Brav beziehen die Fans ihre Abteile. Die Polizisten, die mit strengem Blick in stattlicher Anzahl über den Bahnsteig patrouillieren, werden in dieser Nacht beschäftigungslos bleiben.
Den Gang entlanglaufend blicke ich nacheinander in die Nachbar-Coupés: eine Familie mit zwei Kindern, eine dicke alleinreisende ältere Dame, zwei russische Pärchen. In meinem Abteil 6 haben Sascha (19) und Maxim (20) schon ihre Betten bezogen. Die Jungs aus Moskau nutzen das Fanticket mit Begeisterung aus: Sie haben sich Portugal gegen Neuseeland angeschaut und sind jetzt für lau gen Kasan unterwegs. »Und das alles für nur 100 Rubel, die jeweils eine Karte gekostet hat«, freut sich Sascha. »Letzte Nacht erst sind wir von St. Petersburg mit dem Nachtzug gekommen!« Ein bisschen riecht man das auch, denke ich, dann frage ich schnell, welchem Moskauer Klub sie die Treue halten? ZSKA, Spartak? »Ach, nichts davon«, lacht Sascha, »russischer Fußball taugt nichts. Ich bin Arsenal-Fan und Maxim ist für Milan.«
Nun stößt noch Renato dazu, ein Chilene, der wider Erwarten weder sangesfreudig und schon gar nicht redselig ist. Statt zu feiern mit seinen Kumpels, die sich auf die Nachbarabteile verteilt haben, bezieht er sein Bett über mir. Er schwingt sich nach oben und streckt die Beine von sich. Gerade ruckt der Zug an, da schnarcht Renato schon.
Auch Sascha und Maxim sind gesittete Mitreisende: Kein Wodka, kein Gejohle, kein Gehabe - bei diesen beiden ist die Nacht zum Ausruhen da. Während ich zischend eine Büchse Feierabendbier öffne, drehen sie sich schon zum Einschlafen zur Seite.
In aller Gelassenheit ruckelt der FIFA-Fanzug gen Kasan: Hypnotische Ruhe, nur einmal noch gestört von einer penetranten Schaffnerin, die dringend ihre »Tapatschki« (Hausschuhe) an den Mann bringen will: »Nehmen Sie welche, die kann man überall gebrauchen!« sagt sie immer wieder, ehe wir sie herausgelotst bekommen. Nervensäge! Am nächsten Morgen hingegen macht sie alles richtig: Sie bringt Tee, stark und süß.
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