Ich kann nur arbeiten, wenn ich nackt bin
Geflüchtete im FKK-Paradies - Das Stadttheater Koblenz lotet die Grenzen des Grundgesetzes aus
Man stelle sich einmal Folgendes vor: Wir befinden uns in einem ostdeutschen Nudistenverein, in den es unversehens Frauke Petry und Marcus Pretzell verschlägt. Er wähnt sich im Dschungel, ängstigt sich vor wilden Spinnen, sie hingegen hat keine Skrupel, sich rasch den Blazer vom Leib zu reißen, um in jenem Provinznest auf Stimmenfang zu gehen. Wogegen die FKK-Truppe mit rechtspopulistischem Beistand mobil macht, ist ein geplantes Flüchtlingsheim direkt neben ihrem Camp. Wenn all die testosterongeladenen, unbegleiteten Geflüchteten zu spannen beginnen, könnte es ja mit der schönen Hemmungslosigkeit bald schon vorbei sein.
Zugegeben, die hüllenlose AfD-Spitze ist von Autoren erfunden, der Rest der Geschichte geht tatsächlich auf einen wahren Vorfall in einer sächsischen Gemeinde im Frühjahr 2016 zurück. Und welcher Anlass böte sich wohl besser an, um ein Theaterstück zu machen? Dies haben sich wohl auch Markus Dietze und John von Düffel gedacht und mit Studierenden der Universität der Künste Berlin einen gemeinsam erstellten Text auf die Bühne gebracht. Heiter-beschwingt wird nun am Stadttheater Koblenz »Das Grundgesetz« in all seinen Facetten durchdekliniert. Während im Hintergrund Zitate aus den ersten 19 Artikeln der bundesrepublikanischen Verfassung aufschimmern, wird im Vordergrund der Realitätscheck vorgenommen. Wie weit reichen die Freiheitsrechte? So lautet die zentrale Frage. Zumindest nimmt sie der »völkische Nudistenverein« vollumfänglich in Anspruch. Mit grotesken Stoffbrüsten und -penissen (die Hoden blau, der Phallus rosa!) betreten Schauspieler (unter anderem Reinhard Riecke, Raphaela Crossey und David Prosenc) das Parkett und beginnen samt ihrer körperlichen Anhängsel frontal zum Publikum auf Sitzbällen zu wippen. Eine aberwitzige Chose mit noch aberwitzigeren Klischeefiguren: Darunter die Uli, 34 Jahre alt, als die Filialleiterin des kleinsten »Netto«-Discounters in ganz Deutschland, der arbeitslose Horst, der »nur arbeiten kann, wenn er nackt ist« und daher einfach ohne Job auskommt. Oder die Frührentnerin Erna mit Nebenerwerb im Holzschmuckdesign.
Streiten sie nicht gerade über die Flüchtlingsunterkunft, dann eben um die wenigen Männer im Dorf. Letzteres erscheint auf der Koblenzer Bühne als Deutschlandkarikatur. Neben einem Hirsch aus deutschen Wäldern tragen ordentliches Amtsstubenmobiliar und einige Gartenzwerge zur Atmosphäre bei. Und auch das Rednerpult für janusköpfige Lokalpolitiker darf nicht fehlen. Wenn dahinter ein Angela-Merkel-Imitat auftritt, dann immer nur im Doppelpack. Die eine repräsentiert lächelnd die Political Correctness, die andere den durch die eigene Heuchelei desillusionierten Menschen dahinter.
Was die verschiedenen episodischen Miniaturen verbindet, sind dabei die Werte unseres demokratischen Gemeinwesens, welches jenseits extremer Haltungen auch die Satire und das Absurde aushalten muss. Daher liegt der eigentliche Fokus dieser Uraufführung weniger auf den Geflüchteten als vielmehr auf dem bedenklichen Verhalten der Nudisten. Selbst derlei Gebaren muss ein toleranter Rechtsstaat aushalten. Und wie das Grundgesetz auf Spannungen gründet, so setzt auch die Koblenzer Inszenierung auf ein Spiel zwischen den Polen: zwischen Rechtswirklichkeit und -ideal, Ironie und Ernsthaftigkeit, Karikatur und Gesellschaftsporträt.
Neben Slapstick bleibt einem mitunter auch einmal das Lachen im Halse stecken. Zum Beispiel debattieren in einer Szene zwei Männer, gehüllt in ein Handtuch mit deutscher respektive europäischer Flagge darüber, ob sie ein mutmaßliches Migrantenkind aus dem Wasser retten sollen. Dass man in einem Ort mit dem charakteristischen Namen »Prisma«, worin sich metaphorisch verschiedene Perspektiven brechen, über derartige Fragen diskutiert, zeigt: Hier läuft so manches aus dem Ruder.
Obwohl man mit der Komik keine schlechte Herangehensweise an einen Verfassungstext gewählt hat, um nicht ganz in Dogmatismus zu verfallen, kann sich diese Realisierung nicht ganz ihres tugendhaften Beigeschmacks erwehren. Es bleibt am Ende bequemes Moraltheater, das sich durchaus in die größere Linie derzeitiger Dramatisierungen der »Flüchtlingswelle« einordnen lässt. Kontroversen werden eingeebnet und Standpunkte jenseits des linksliberalen Mainstreams zur Farce. Mehr Mut zur Auseinandersetzung und zum Streit wäre nicht nur grundsätzlich einem Theater zuträglich, das gesellschaftliche Diskussion vorantreiben möchte. Auch der Koblenzer Annäherung an das Grundgesetz hätte mehr Reibungsfläche gut getan.
Nächste Vorstellungen: 30. Juni, 5. Juli
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