22 000 Zähne im Namen Christi

Den missionierenden kanadischen »Kariesexperten« George Mackay verehren Taiwaner wie einen Gott. Ihr täglich Brot kaufen viele gern in einer »deutschen« Bäckerei. Von Nicole Quint

  • Nicole Quint
  • Lesedauer: 5 Min.

Der schnellste Weg zur Seele eines Menschen führt über seine Zähne. Mag Buddhisten das Nirwana winken und der Taoismus die polaren Kräfte von Yin und Yang ausbalancieren. Wer von eitrigen Wurzeln und fauligen Löchern erlösen kann, setzt sich spielend gegen die spirituelle Konkurrenz durch - jedenfalls in Taiwan.

Dort wurde der Kanadier George Mackay als predigender Kariesexperte erst zum erfolgreichen Missionar des Christentums und posthum zum Touristenmagneten. Am Ort seines Wirkens, der alten Hafenstadt Tamsui, stehen Besucher Schlange, um sich vor seinem Bronzedenkmal fotografieren zu lassen. Es zeigt Mackay kurz nach seiner Ankunft in Taiwan im Jahr 1871 tief im Gebet versunken, mit lang wallendem Bart, die Bibel und einen Arztkoffer im Gepäck. Doktor der Theologie, nicht der Medizin, ist er gewesen, bestätigt die Dame am Eingang des kleinen Museums, das zu Mackays Ehren im alten Krankenhaus der Stadt eingerichtet wurde und die unorthodoxen Methoden des Missionars präsentiert.

Lexikon

Georg Leslie Mackay (1844-1901) lebte in Tamsui, wo er eine Missionsstation betrieb. Er heiratete eine einheimische Frau, mit der er drei Kinder hatte, und lernte Chinesisch. Er reiste wiederholt in die von den Ureinwohnern bewohnten Gebiete, um dort zu missionieren.

Mackay etablierte eine Krankenstation, die sich zu einem Krankenhaus weiterentwickelte, und gründete die erste Mädchenschule in Taiwan überhaupt sowie das Oxford-College. Zur Gründung dieses Colleges kam es, als Mackay 1880 nach achtjähriger Tätigkeit nach Kanada zurückkehrte, um über seine Arbeit Rechenschaft abzulegen. Als seine Landsleute erfuhren, dass er seine Schüler im Schatten großer Bäume unterrichtete, spendeten sie über 6000 Dollar für den Aufbau einer Schule. Nach seiner Rückkehr machte sich Mackay an die Arbeit, und unter seiner Leitung wurde das Gebäude 1882 fertiggestellt. Das Haus ist nun Teil einer Universität. Es ist benannt nach dem Oxford-County in Kanada, wo das Geld für den Bau gespendet wurde.

Durch den ganzen Norden Taiwans war er gezogen, um zu predigen, doch wo er auch hinkam, immer besuchte Mackay zuerst die Kranken, verteilte Medizin und behandelte Zahnschmerzen. Erst dann zückte er die Bibel. In 30 Jahren Missionarstätigkeit soll Mackay 22 000 Zähne im Namen Christi gezogen haben. Sein Grab gehört heute zu den meistbesuchten auf dem Ausländerfriedhof der Stadt.

Nach Tamsui kommt jedoch nicht nur, wer dem Missionar seine Referenz erweisen will. Von Taipeh aus bringt die rote Metrolinie Tagestouristen in rund 30 Minuten nach Tamsui ans Meer. Gestresste Städter flüchten vor allem am Wochenende aus den Wohn- und Bürowaben der Hauptstadt Taiwans an die Mündung des Tamsui-Flusses und schlurfen, schieben und schwirren dann über die Uferpromenade, vorbei an Straßenmusikern, Schießbuden und Tempeln. Von den Garküchen und Restaurants wehen würzige Duftschwaden herüber: Rotes Fleischcurry im Becher, Muscheln in Tüten, in Blätter gewickelte Fischbällchen und frittierte Tintenfische am Spieß - alles hübsch handlich für den Verzehr portioniert. In Tamsui hat der Hunger gar keine Zeit sich einzustellen, so verfügbar ist das Essen hier überall.

Die kulinarische Kontaktaufnahme mit den lokalen Spezialitäten führt schließlich in die Bäckerei San Xie Cheng, zum außergewöhnlichsten Speiseangebot der Stadt: Dinkelbrot nach deutschem Rezept. Ladenbesitzer Lee Zi Ren begrüßt seine Kunden wahlweise auf Chinesisch, Japanisch, Englisch, Französisch oder Deutsch. Gegründet wurde die Bäckerei von Herrn Lees Großvater im Jahr 1935. Das täglich Brot allein garantierte in den Anfangsjahren jedoch noch keine guten Geschäfte. Um die anzukurbeln, eiferte Lee Senior dem Missionar Mackay nach, der seinen Glauben schließlich auch mit Medizin unter die Leute gebracht hatte, und verkaufte in seiner Backstube neben Kuchen auch Kopfschmerztabletten, Salben und Tinkturen. Heute konzentriert sich Familie Lee wieder auf ihr Kerngeschäft und setzt zur Verkaufsförderung auf die Exotik deutscher Backwaren. Neben den klassisch taiwanischen Ananaskuchen, Melonenpastetchen und Eidotterteilchen sind deshalb auch Roggenbrot mit Leinsamen, Kürbis- und Kartoffelbrot, Sesambrötchen und Schwabenkörnle im Sortiment. Während freundliche Verkäuferinnen von allem kleine Kostproben und Tee reichen, begleitet der sprachtalentierte Patron seine Kunden mit einem Ständchen - am liebsten italienische Schlager von Adriano Celentano - in die hinteren Räume des Ladens, wo er eine beachtliche Sammlung historischer Gerätschaften und Kuchenformen ausstellt.

Versorgt mit Proviant für eine echte deutsche Brotzeit geht es mit der Metro in den benachbarten Badeort Beitou. Hier ist die eigene Nase der beste Wegweiser. Immer dem fauligen Geruch folgen, der einen bereits am Bahnhof mit Penetranz begrüßt, und schon bald steht man mitten im Hell Valley. Dicke Wolken weißen Wasserdampfes steigen aus dieser fast 4000 Quadratmeter großen Grube auf. Ab und an lichtet ein kühler Luftzug den schwefelig-stinkenden Nebel und gibt den Blick frei auf das jadegrüne Wasser, das bis zu 100 Grad heiß werden kann. Ideal zum Eierkochen, aber um die Gedanken gerinnen und den Kopf glühen zu lassen, geht es besser in eines der bedeutend kälteren Hot-Spring-Becken von Beitou. Die Straßen der Stadt sind gesäumt von Spa-Hotels und Badehäusern, die das Quellwasser direkt in ihre Pools und Privatbäder leiten und ihren Gästen komplette Wellnessprogramme anbieten. Das Herzstück von Beitous Bäderkultur ist jedoch das öffentliche Freibad. Hier entspannt man in kaskadenartig angelegten, brühwurst-warmen Becken. Pào tāng - sich in die Suppe legen, nennen die Taiwaner das Versinken in den heißen Fluten, das selbst allerschlimmste Muskelverspannungen wegschmilzt und zu einer Entspannung von Körper und Geist mit geradezu meditativer Qualität führt. Eine ideale Art der Erholung auch für die Angestellten aus Taipeh, die nach Feierabend einen schnellen Abstecher nach Beitou unternehmen.

Zu verdanken haben sie die Bäder einigen heimwehgeplagten Japanern. Die waren überglücklich, in Taiwan nicht auf ihre Thermalbäder, die berühmten Onsen, verzichten zu müssen, als die Insel von 1895 bis 1945 japanische Kolonie war. Vor allem die Region um Beitou strotzt von vulkanischen Quellen. Perfekte Bedingungen, um das japanische Erholungskonzept der Entspannung im Bad nach Taiwan zu exportieren, und so eröffnete ein Geschäftsmann aus Osaka bereits 1896 Taiwans erstes Thermalquellenresort in Beitou. Nicht ausgeschlossen, dass er damit auch die Verbreitung des Buddhismus befördert hat. Wer jemals unter wohligen Seufzern und mit seligem Gesicht in himmlisch entspannte Willenlosigkeit geglitten ist, glaubt fortan daran, dass man das Nirvana auch beim Baden erreichen kann.

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