Die Tage in Hamburg zur »dritten Option« machen

Der Protest gegen den G20-Gipfel müsse sich mit anderen Wellen von Bewegung verbinden, meint Beppe Caccia

  • Beppe Caccia
  • Lesedauer: 3 Min.

»Eine andere Welt ist möglich« lautete das Motto der Bewegungen, die von Seattle 1999 bis Genua 2001 die neoliberale Globalisierung anprangerten und weltweite Gerechtigkeit einforderten. Seither scheinen nicht bloß 15 Jahre, sondern ein ganzes Jahrhundert vergangen. Damals, im »goldenen Zeitalter« der globalisierten Wirtschaft, dienten die Gipfeltreffen der G8 dazu, eine »neue Weltordnung« zu entwerfen, verbunden mit dem Versprechen eines immer breiteren Schichten der Menschheit zugute kommenden kapitalistischen Wachstums. Wir haben diese Gipfel belagert und so die diesem Versprechen innewohnende Lüge bloßgestellt.

Heute, rund zehn Jahre nach dem Beginn der großen Finanzkrise, sind die unerträglichen sozialen und ökologischen Folgen des neoliberalen Modells der Globalisierung offensichtlich. Noch nie war weltweit der Reichtum, den die Menschheit in ihrer Produktivität gemeinsam schafft, derart ungleich verteilt und konzentriert. Und noch nie ging die zunehmende gesellschaftliche Ungerechtigkeit mit derart katastrophalen Störungen des Ökosystems einher.

Der Autor

Der Philosoph Beppe Caccia ist in sozialen Bewegungen wie Blockupy, EuroNomade und European Alternatives aktiv.

Aus den G8 sind nunmehr, im Zeichen einer unregierbaren »Weltunordnung«, die G20 geworden. Auf dem Gipfel in Hamburg werden, bei allen sonstigen Unterschieden, zwei politische Krisen-Antworten einander begegnen (und stellenweise miteinander kollidieren): zum einen eine, die angesichts der gesellschaftlichen Verwerfungen eine Rückkehr zum Nationalismus, zum Protektionismus und zu autoritären Formen der Regierung propagiert; zum anderen eine, die auf Stabilisierung, auf eine Rückkehr zum business as usual der flexiblen Akkumulation setzt und entsprechend eine weltweite, multipolare Soft Power favorisiert. Beide jedoch beabsichtigen keineswegs, die grundlegenden neoliberalen Prinzipien der vergangenen vier Jahrzehnte zur Disposition zu stellen.

Im Gegenteil: Die Unumkehrbarkeit der Globalisierungsprozesse steht für die einen wie für die anderen außer Frage. Und ebenso klar ist, zumal in Zeiten, in denen die Akkumulation auf der umfassenden Finanzialisierung der Ökonomie beruht, dass es einer der Pfeiler und zugleich eine der großen Schwachstellen des kapitalistischen Systems ist, alle Momente gesellschaftlicher, kultureller, geografischer Verschiedenheit zu »verwerten« und sie zu Faktoren der Spaltung, einer differenzierenden Ausbeutung sowie der Kontrolle über die Finanz-, Waren- und Menschenströme zu machen.

Unausweichlich vervielfachen solche Bedingungen die Spannungen und Konflikte. Die permanente Krise steht gegen die Vorstellung einer realisierbaren »globalen Governance«. Der Ausgang ist offen, Tragik und Katastrophen sind ebenso wahrscheinlich wie das Auftauchen einer Möglichkeit radikalen Wandels. Nicht zufällig steht gegen die »Parade der Monster«, die von dieser Zeit des unendlichen Übergangs erzeugt wird, die Idee des »Wir sind schon eine andere Welt« - wie sie die NoG20 formuliert hat, wenn sie dazu aufruft, in den kommenden Tagen in Hamburg zu protestieren. Denn die Praxis der Bewegungen steht für die notwendige Alternative zur »Weltunordnung«, wie die G20 sie repräsentieren.

Das zeigen die Mobilisierungswellen der vergangenen Monate und ihre Protagonistinnen weltweit: etwa die Frauen des feministischen Netzwerks »Ni una menos«, die Migrantinnen und die Solidarität der Willkommensinitiativen, die Ausgebeuteten der Logistikplattformen mit ihren Streiks neuer Art, tausende lokale Kämpfe gegen umweltzerstörende Vorhaben und die Erfahrungen der Konflikte um das Recht auf Stadt, aus denen bisweilen kommunale Regierungen der Veränderung hervorgehen. In all dies fließen auch die Kämpfe gegen Austeritätspolitik, Verarmung und Prekarisierung ein, die dazu beitrugen – wie etwa bei Blockupy in Frankfurt am Main –, in den vergangenen Jahren einen neuen gesellschaftlichen und politischen Raum eines »Europa von unten« zu umreißen, der nun neue Ausdrucks- und Organisationsformen sucht.

Die Tage in Hamburg können mehr sein als ein einzelnes Ereignis, ein isoliertes Aufflackern des Protests, wenn sie dazu beitragen, im Zusammenwirken der verschiedenen Wellen von Bewegung die mögliche politische Flut sichtbar zu machen, in der eine »dritte Option« aufscheint. Einer solchen kraftvoll eine politische Perspektive zu eröffnen, ist zugleich die effektivste Art, die Logik des Ausnahmezustands zu durchkreuzen, die sich in Hamburg als Militarisierung und als das Außerkraftsetzen verfassungsmäßiger Rechte sowie anderswo und tagtäglich als Herrschaft durch Angst zeigt.

Übersetzung: Thomas Atzert

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