Minijob und Null-Stunden-Vertrag

Fast überall in der EU sind atypische Beschäftigungsverhältnisse auf dem Vormarsch

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.

Der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker empörte sich am Dienstag in Straßburg über ein weitgehend leeres Europaparlament. Grund für seinen Wutausbruch: Als er eine Rede zur EU-Ratspräsidentschaft Maltas im ersten Halbjahr halten wollte, waren nur 30 von 751 Abgeordneten anwesend. Noch weniger saßen im Plenarsaal, als spät am Montagabend für 20 Minuten prekäre Beschäftigungsverhältnisse auf der Tagesordnung standen. Dabei betrifft das Thema viele Millionen Menschen in Europa, Tendenz steigend. Denn in einem sind sich alle Akteure einig: Prekäre Arbeit hat in den letzten 15 Jahren fast überall in der EU erheblich zugenommen. Gemeint sind niedrig bezahlte Jobs, befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit, Teilzeitverträge, Minijobs oder Scheinselbstständigkeit.

Neoklis Sylikiotis (GUE/NGL) stellte den Parlamentariern einen Bericht des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten vor. Er forderte, Arbeit wieder »als Vollbeschäftigung zu definieren, die es Beschäftigten und ihren Familien ermöglicht, ein würdevolles Leben zu führen«. Die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten seien aufgefordert, so Sylikiotis, Strategien auszuarbeiten, um der Problematik zu begegnen.

Den Trend zu den auch »atypisch« genannten Beschäftigungsformen haben eine Reihe von Studien belegt. Auch die EU-Kommission selbst hat entsprechende Zahlen vorgelegt. So berichtet das im April von der Kommission veröffentlichte »Reflexionspapier zur sozialen Dimension der EU« - eines von fünf Papieren, die zusammen mit dem »Weißbuch zur Zukunft Europas« einen Reformprozess anstoßen sollen - von einem Anstieg der in Teilzeit tätigen Europäer von 33 auf 44 Millionen in den vergangenen zehn Jahren. Die Zahl der befristeten Verträge ist im gleichen Zeitraum von 18,5 auf 22 Millionen gewachsen. Zwar sind auch neue EU-Bürger durch den Beitritt Kroatiens hinzugekommen. Die Kommission aber macht »technischen Fortschritt, Globalisierung und das Wachstum des Dienstleistungssektors« für die »radikale Veränderungen des Arbeitslebens« verantwortlich. Generell lasse sich »ein Trend hin zu größerer Flexibilität« feststellen. Was die Kommission nicht schreibt: Für Arbeitnehmer bedeutet »Flexibilität« oft größere Unsicherheiten.

Sylikiotis kritisierte am Montagabend, die Maßnahmen zur Krisenbewältigung in der EU hätten diesen Trend noch verstärkt. Zum Beispiel, indem die südeuropäischen Staaten zur Aufgabe ihrer Kollektivvertragssysteme gezwungen worden seien. Auch die europäischen Bürger finden, dass hier Handlungsbedarf besteht: Laut Eurobarometer 2017 sind sieben von zehn Europäern der Meinung, Beschäftigung und Sozialpolitik seien schlecht gesteuert.

Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hatte bereits 2016 in einer Studie gezeigt, dass mehr als ein Drittel der europäischen Erwerbstätigen in atypischen Beschäftigungsformen arbeiteten, in 20 der 28 EU-Länder nahmen diese zwischen 2006 und 2014 zu. »Insofern bereits ›normal‹ geworden sind beispielsweise in den Niederlanden die Teilzeitbeschäftigung, in Italien die Solo-Selbstständigkeit und in Polen die befristete Beschäftigung«, so die Autoren der Studie. Eine Extremform prekärer Arbeit sind die in Großbritannien verbreiteten Null-Stunden-Verträge, von denen es bereits mehr als eine Million gibt. Beschäftigte stehen hier auf Abruf bereit, werden aber nur nach der tatsächlich geleisteten Stundenzahl entlohnt; eine monatliche Mindeststundenzahl gibt es nicht.

Die EU-Kommission verwies in der Plenardebatte am Montag lediglich auf ihr »Reflexionspapier zur sozialen Dimension Europas«. Gegenstand war das Papier auch bei einer Anhörung im Deutschen Bundestag am 21. Juni. Während die dort anwesenden Arbeitgebervertreter vor EU-Regulierung warnten und von »Kompetenzanmaßung« sprachen, kritisierten die als Sachverständige geladenen Gewerkschafter Reiner Hoffmann (DGB) und Frank Schmidt-Hullmann (IG BAU) das Papier als unzureichend. Die EU-Länder befänden sich in einem »Unterbietungs- und Deregulierungswettlauf«, so Hoffmann. Der DGB könne aber in dem Papier eine soziale Agenda der EU nicht erkennen, die Vorschläge gingen nicht weit genug. »Schlimmer wäre es nur, wenn der soziale Aspekt bei den fünf Reflexionspapieren zur Neugestaltung der EU völlig fehlte«, so Hoffmanns Bilanz.

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