Wenn sich »Eliten« verzetteln
Auf der Tagesordnung des G20-Gipfels stehen Klima, Welthandel, Gesundheit, Afrika, Frauen und vieles mehr
»G20 versagt auf ganzer Linie« - das erwarten nicht allein die Globalisierungskritiker von Attac. Ein zentrales Thema des Gipfels in Hamburg wird der Klimaschutz sein. Die 20 führenden Wirtschaftsnationen verantworten 75 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes - Tendenz steigend. »Der Erfolg dieses Gipfels wird entscheidend daran gemessen, wie stark das Bekenntnis der größten Industrie- und Schwellenländer zum Klimaschutz ausfällt«, sagt Dennis Snower, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und offizieller Berater der Gruppe der 20. Snower und sein Institut gehören der Gruppe »Think 20« an, in der der sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Forschungsinstitute aus den G20-Ländern zusammenarbeiten. Die Gruppe hat ein offizielles Mandat der deutschen Präsidentschaft, die die Vorbereitung der Bundesregierung auf den Gipfel intensiv begleitet und eine Reihe von teilweise originellen Politikempfehlungen überreicht, auch zum Klimaschutz.
Doch gerade an diesem Thema wird deutlich, dass die Gegensätze nicht allein politischer und soziokultureller Natur sind und dass ein Konsens nicht allein von bornierten Industrielobbyisten verhindert wird. Das Kernproblem ist unterschwelliger, es sind unterschiedliche Interessen zwischen den Ländern und innerhalb der einzelnen G20-Staaten.
Als Dreh- und Angelpunkt für einen klimafreundlichen Umbau der Energieversorgung gilt der Kohleausstieg. Selbst modernste Kraftwerke in Deutschland oder den USA gelten als CO2-Dreckschleudern. Nichtregierungsorganisationen weisen darauf hin, dass die ärmsten Menschen in den Ländern des Globalen Südens besonders vom Klimawandel betroffen sind. Sie kritisieren auch die katastrophalen ökologischen und sozialen Auswirkungen des Kohlebergbaus für die Menschen in den Abbaugebieten. Deutschland allein importiert jedes Jahr über 50 Millionen Tonnen Steinkohle und ist damit Spitzenreiter in der EU. »Eine weitere Nutzung würde den Kampf gegen die Armut weltweit bremsen«, warnt das Bischöfliche Hilfswerk Misereor.
Gleichwohl ist die Ausfuhr von Kohle für Länder wie Russland, Kolumbien oder Australien ein wichtiger Exportzweig und bringt notwendige Devisen. Millionen Arbeitsplätze, wenngleich oft lebensgefährliche und schlecht bezahlte, bieten Bergwerke in Polen, Südafrika sowie Indien. Das Schwellenland mit einigen wenigen Hochtechnologie-Inseln dürfte in diesem Jahr die USA als weltweit größter Förderer überholen.
Größter Verbraucher weltweit ist ebenfalls ein Schwellenland: China, wo der Kohleanteil am gesamten Energieverbrauch weit über 60 Prozent liegt. Zwar hat die Volksrepublik eine ehrgeizige Energiewende eingeleitet, und auch Indien sowie andere Schwellen- und Entwicklungsländer haben erkannt, dass Naturressourcen endlich sind. Doch ein Umsteuern benötigt viel Zeit - Experten erinnern an den jahrzehntelangen und längst nicht abgeschlossenen Umbau des Ruhrgebietes in Westdeutschland.
Interessengegensätze zwischen den Teilnehmern sind nichts Neues. Dennoch dürfte der Hamburger Gipfel der spannendste seit langem werden. Neu ist die allgemeine Verunsicherung, die »Eliten« und »ihre« Bürger ergriffen hat und die sich in Wahlergebnissen wie in den USA oder im Brexit-Votum der Briten ausdrückt. Zehn Jahre nach der Finanzkrise erwarten Beobachter, dass die politischen Herrscher der Welt »neue Parameter« für den globalisierten Kapitalismus zu setzen versuchen, obgleich sie angesichts der globalen Gemengelage eher hilflos wirken, wie es ein Hamburger Unternehmensberater ausdrückt, der auch Linke berät.
Es gibt also gute Gründe, die Diskussionen und Beschlüsse auf dem G20-Gipfel genau zu verfolgen. Doch das wird schwierig, denn die Fülle an Themen macht es selbst Experten unmöglich, ein Gesamtbild zu erhalten. Die Veranstaltung droht im Klein-Klein unterzugehen.
Die Lage der Finanzmärkte und der Weltwirtschaft ist derzeit stabil, aber nicht sicher. So werden es wohl die meisten Wirtschaftswissenschaftler und Konzernvorstände sehen. Nach fünf Jahren schwachen Wachstums dürfte die Weltwirtschaft wieder an Schwung gewinnen, das erwartet auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). So ist die Wirtschaft der G20 im ersten Quartal um beachtliche 0,9 Prozent gegenüber dem Vorquartal gewachsen. Doch das reicht in den meisten Ländern nicht aus, um mit dem Bevölkerungswachstum Schritt zu halten und genügend Jobs für junge Leute zu schaffen. Die Industriestaatenorganisation OECD fordert daher inzwischen mehr Umverteilung und höhere Staatsausgaben.
Auf der Hamburger Agenda stehen auch die gewaltigen chinesischen und deutschen Überschüsse im Export. 2016 waren es in Deutschland mehr als 250 Milliarden Euro. Damit wurde sogar China übertrumpft. Vor allem US-Präsident Donald Trump, aber auch einigen Ländern des Südens ist dies ein Dorn im Auge. Umgekehrt konsumieren viele Länder wie die USA mit einem Minus in der Leistungsbilanz faktisch auf Pump.
Unterm Strich habe sich das Einkommensgefälle der »Niedrigeinkommensländer« zu den Ländern mit mittleren Einkommen seit 1990 verschärft, stellte kürzlich die Bundesregierung in ihrem Entwicklungspolitischen Bericht fest. Ein gerechtes und nachhaltiges Wirtschaftswachstum sowie die Stabilität des Finanzmarktes nannte Regierungssprecher Steffen Seibert denn auch als die beiden Hauptthemen des Wirtschaftsgipfels.
Weitere Themen sind neben der Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens auch noch Handelspolitik und Steuerrecht, die beide traditionell zum Kerngeschäft der G20 gehören. Zudem geht es um die Digitalisierung des Gesundheitswesens, um Afrika und um Frauen. Letzteres ist laut Seibert ein persönlicher Wunsch von Kanzlerin Angela Merkel. Ziel sei die Gründung eines Fonds, »der Frauen eine eigene unternehmerische Tätigkeit ermöglicht«.
Selbst beim Thema Migration sind die Interessen ungleich. In den meisten Herkunftsländern fehlen die jungen Leute als Arbeitskräfte. Doch manche Regierung befördert die Auswanderung. Migranten überweisen nämlich große Devisensummen an ihre Familien daheim. 2016 sollen es über 400 Milliarden Euro gewesen sein, so ein UNO-Bericht - weit mehr als jemals zuvor.
Das Große und Ganze droht in dieser Themenflut unterzugehen. In der Ausweitung der Agenda sehen Beobachter einen der Gründe für die zunehmende Wirkungslosigkeit der G20-Gipfeltreffen. Dabei wäre die Staatengruppe eigentlich jetzt besonders gefordert, Lösungen zu präsentieren. »Während die profitwirtschaftliche Internationalisierung trotz protektionistischer Tendenzen voranschreitet, gibt es kaum eine funktionierende politische Institutionalisierung internationaler Rahmenpolitik«, sagte der Bremer Ökonom Rudolf Hickel dem »nd«. So breche die Welthandelsorganisation (WTO) auseinander, der Internationale Währungsfonds verliere an Handlungsfähigkeit und die Vereinten Nationen hätten kaum strategische Bedeutung.
Der Think-Tank der G20 wünscht sich denn auch als Leitmotiv: »Verbindet die Welt neu!« Dies stehe zum einen für die »Überwindung nationaler Alleingänge und ein gemeinsames Handeln bei supranationalen Problemen«, erläutert Koordinator Snower. »Zum zweiten steht es dafür, der Entkoppelung von wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt entgegenzuwirken.« Doch Gipfelkonferenzen sind kein Wunschkonzert, dessen Nachklang von gutmütigen Wirtschaftswissenschaftlern bestimmt wird.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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