Protest aus dem Bett heraus?
René Heilig glaubt, dass Erziehung per Polizeiknüppel Nebenwirkungen hat
Zugegeben: Der massive Protest gegen den G20-Gipfel wird in Hamburg zwiespältig gesehen. Die Masse besinnt sich auf die Kraft, die angeblich in der Ruhe liegt. Doch da die zumindest im Zentrum der Hansestadt immer öfter gestört wird, schnellen die Online-Reisebuchungen nach oben. Mallorca, wir kommen! Andere machen sich Gedanken, wie man Protest besser gestalten kann. So schrieb Maxi S. an ihre Hamburger Regionalzeitung: »Warum muss man seinen Protest unbedingt auf der Straße kundtun? Die Leute würden ja auch sonst so gern posten, facebooken, twittern und e-mailen. Wie wäre es, wenn sie dies nutzen und den von ihnen gewählten Politikern damit unmissverständlich klarmachen würden, dass sie mit dieser Politik nicht einverstanden sind und ihnen bei der nächsten Wahl das Mandat entziehen?«
Das hat was. Zwar kommt man dann auch nicht um die Verkehrseinschränkungen wegen der Regierungsrallyes herum, doch hätte man die Tagungsorte auch mit einem Achtel der jetzt versammelten Polizisten sichern können. Das wäre billiger gewesen und hätte Nerven geschont. Allerdings ist zweifelhaft, ob sich der so blutig angedrohte Angriffsautonome damit zufrieden gegeben hätte, Trump ein Pflasterstein-Foto zu mailen, statt damit den Imbiss an der Ecke zu treffen. Dank zahlreicher neuer Gesetze hätten die Behörden den Absender ohne Überstunden ermitteln und nicht nur virtuell vor den Kadi zitieren können. Fraglich ist auch, ob die Gruppe junger Mädchen, die gestern mit Zelt und Isomatte aus dem Berliner ICE gestiegen ist, happy wäre, wenn sie der Hamburger Polizeibehörde eine kopierte Campinganleitung aus dem Internet hätten zuschicken können. Live is live …
Der Vorschlag der Leserin ist zudem nicht so modern, wie er scheint. Als es noch keine digitalen, sondern nur analoge Protestmöglichkeiten gab, hatten der Beatle John Lennon und seine Liebste Yoko Ono einfach mal beschlossen, das Bett für längere Zeit nicht zu verlassen. So wollten sie für den Weltfrieden protestieren. Was den nicht wesentlich vorangebracht hat, doch ihm auch nicht schadete. Schon weil es ihn nicht gibt.
Ehe wir uns jetzt verrennen - auch die Verknüpfung aus analog und digital bringt nicht weiter. Zwar wissen wir spätestens seit dem aufgeflogenen Spähangriff der NSA, dass die Kanzlerin ein Smartphone hat. Theoretisch könnte man Angela Merkel also eine Aus-dem-Bett-SMS schicken, in der steht: »Hi Alte, mach mal bessa Klima!« Doch welche Nummer hat sie?
Wie zu allen Zeiten gibt es auch in unseren viele Vorurteile gegenüber der angeblich unpolitischen Jugend. Die meisten davon sind Unfug. Zumeist ist es nur das Unvermögen der agierenden Parteien, Jugend für Politik zu interessieren. Wie schnell sich das ändern kann, zeigt ein Blick über den Ärmelkanal. Nachdem junge Leute gemerkt haben, dass - so wie die Leserbriefschreiberin es auch meint - Wahlen durchaus Sinn machen, wurde selbst ein alter knöchriger Labour-Kerl zum Superstar.
Ob denn die SPD daraus nicht etwas lernen könne, so sie fortexistieren will, fragte ich jüngst den Parteivize und Ersten Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz. Nö, sagte der. Der Erfolg von Jeremy Corbyn bestehe nur aus der Schwäche von Premierministerin Theresa May. Und im übrigen habe die SPD im Vergleich zu Labour die älteren Traditionen.
Man möchte hinzufügen: May ist nicht Merkel. Doch insgesamt ist es auch nicht so toll, wenn ein Stadtvater seine nachwachsende Gemeinde so schlecht kennt. Hamburgs Bevölkerung ist die jüngste aller Bundesländer. Das Durchschnittsalter liegt bei 42,3 Jahren und damit 1,7 Jahre unter dem Republikdurchschnitt. In den Stadtteilen Duvenstedt und Jenfeld liegt der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung bei rund 16,5 Prozent. In Neuallermöhe sind 23,5 Prozent der Menschen 18 Jahre jung oder jünger. In der HafenCity liegt ihr Anteil bei 20,2 Prozent, sagen die Statistiker der Stadt.
Nein, die Jungen sind beileibe nicht alle auf der Straße, um gegen G20 zu protestieren. Doch auch die Ruhigen erleben zweierlei. Erstens: Die großen Staatenlenker dieser Erde sind unfähig, sie und damit die Zukunft der Jugend zu behüten. Und zweitens: Der Umgang mit jenen, die anderer Meinung sind als Trump, Putin, Erdogan oder Merkel, zeigt, dass man sich weit mehr als bislang gegen deren Regentschaft wehren sollte. Per Twitter, beim Wählen und weiter auf der Straße.
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