Kindlich-hilflos, aggressiv und aufbrausend

Berliner Landgericht sprach den U-Bahn-Treter wegen gefährlicher Körperverletzung bedingt schuldig

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Gericht blieb mit zwei Jahren und elf Monaten Freiheitsstrafe unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die für die Tat eine Gefängnisstrafe von drei Jahren und neun Monaten gefordert hatte. Die beiden Verteidiger des Täters hielten für ihren Mandanten eine Bewährungsstrafe für tat- und schuldangemessen.

Im Mittelpunkt des letzten Verhandlungstages stand das psychiatrische Gutachten des Sachverständigen Dr. Alexander Böhle. Was ist das für ein Mensch, der einer völlig ahnungslosen Frau plötzlich und unvermittelt in den Rücken tritt, sie die U-Bahn-Treppe herunterstürzt und er scheinbar unbeteiligt weiterläuft? Der Lebenslauf des Täters und die Umstände der Tat sollen das Geschehen am 27. Oktober auf dem U-Bahnhof Hermannstraße erfassbarer machen.

Der Sachverständige beschrieb Svetoslav S., Angehöriger einer türkischen Minderheit in Bulgarien, als depressiv, kindlich-hilflos, mit großen Schuldgefühlen, aber auch sehr schnell aggressiv und aufbrausend. Mit einem Intelligenzquotient von 63 sei der Mann als geistig eingeschränkt einzustufen. Es falle ihm schwer, die einfachsten Dinge zu erklären.

Die Biografie von Svetoslav S. ist geprägt von einem Leben am unteren Rand der Gesellschaft. Aufgewachsen in bitterster Armut in einer vierzehnköpfigen Familie auf dem Lande gehörten Gewalt, Alkohol und Kinderarbeit zum Alltag. Eine Schule besuchte er nur bis zu dritten Klasse, mit neun Jahren begann er Alkohol zu trinken, seit dem 16. Lebensjahr konsumiert er regelmäßig Drogen. Mit 15 Jahren lernte er seine damals 14-jährige Freundin kennen, die Eltern verstießen ihn, er landete in verschiedenen Heimen und zog dann mit seiner Frau, mit der er drei Kinder hat, ohne Wohnsitz und ohne Beruf durch verschiedene Länder Europas, wo Angehörige lebten. Bei einem Autounfall vor einigen Jahren in Polen erlitt er eine schwere Kopfverletzung, die seine Schuldfähigkeit erheblich minderten. 2016 kam er nach Deutschland zu seinen Schwestern und lebte hier mit Frau und den drei Kindern.

Auslöser der Tat könnten Streitigkeiten mit seiner Frau und mit seinem Bruder gewesen sein. Alkohol und Drogen hätten ihn in jener Nacht zu einer tickenden Zeitbombe gemacht. Deshalb ging das Gericht, im Einklang mit der anklagenden Staatsanwaltschaft und den Verteidigern von einer verminderten Schuldfähigkeit des Mannes aus.

»Es war die eindrucksvolle Kraft der Bilder, die den Fall zu einem besonderen gemacht hat«, erklärte die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer und umriss damit das große Medieninteresse. Die Aufnahmen aus der Überwachungskamera des U-Bahnhofs hatte eine Identifizierung des Täters möglich gemacht. Die Verteidigung erklärte in ihrer Abschlussbewertung, es sei nicht gut, ihn für Jahre wegzusperren, denn der Angeklagte habe unter einem immensen Druck gestanden. Er habe überhaupt nicht verstanden, was da eigentlich passiert sei. Er sei ein durchaus normaler Mensch, aber in dramatischen Momenten raste er manchmal aus.

Das Gericht erklärte in seiner Urteilsbegründung, dass es trotz aller widrigen Umstände keine Entschuldigung für solch eine menschenverachtende Tat gebe. In das Urteil eingeflossen waren auch mitangeklagte exhibitionistische Handlungen. Das Gericht betonte, dass das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung erheblich gelitten habe.

In seinem letzten Wort hatte Svetoslav S. erklärt.: »Ich wollte niemandem Schmerz zufügen«. Dann gingen seine Worte in Tränen unter.

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