Eine Wiese im Meer
Posidoniagras wird zur Sehenswürdigkeit im Mittelmeer vor Formentera
Untergetaucht im vorwiegend flachen Mittelmeerwasser ausgewählter Küsten wiegen sie, den Wasserströmungen angepasst, ihre saftig grünen Blätter. Im Ensemble schwebt das Posidoniagras (dt. Neptungras) wie ein Ballett. Ein grünes Meer inmitten eines blauen.
Flach sind die Blätter, zwei bis drei Zentimeter breit. Großflächige Wiesen bilden sie vor einigen Küsten des Mittelmeeres, bevorzugt an Inseln wie Formentera. Als untergetauchte Grasbüschel auf dem flachen, sandigen mediterranen Meeresboden verwurzelt, brachte und bringt das Posidoniagras Formentera ihre Vorzüge: saubere, klare Küstengewässer, weiße Sandstrände, Tierartenvielfalt und hypothetisch noch mehr. Das »Mehr« und das Meer müssen jedoch noch erforscht werden. Eines steht allerdings fest: In den zurückliegenden Jahren wurde diese bemerkenswerte Pflanze zum Verlierer. Jetzt leisten die Tourismusmacher von Formentera, der - im Vergleich mit den großen Nachbarn - ruhigen und ursprünglichen Baleareninsel, Erste Hilfe.
Die zweijährige Edith schaut vom weißen Sandstrand von Levante auf das klare Wasser. »Iiiii!«, ruft sie, zeigt auf das Meer und blickt zu ihrer Mutter. »Was ist das für Dreck?« Die junge Frau lächelt und zuckt mit den Schultern. »Da musst du nicht ›Iiiii‹ sagen. Das ist eine Wiese im Meer.«
Das Posidoniagras ist ein Siegel der Natur für gute Wasserqualität. Diese Pflanze braucht selbst gute Wasserqualität und sorgt dafür. Ein Ökosystem mit etwa 400 Pflanzen- und 1000 Tierarten versorgt diese Posidoniawiesen vor Formentera mit Sauerstoff. Für die Touristen wird dies durch das klare Wasser und die weißen Sandstrände messbar. Die Pflanze hält den weißen Sand auf dem Strand und unter Wasser fest, sorgt für sauberes Küstenwasser und schützt Tiere. Wissenschaftler wie der spanische Meeresbiologie Carlos Duarte stellten fest, dass Posidoniawiesen doppelt so viel CO2 speichern können wie eine gleich große Fläche im tropischen Regenwald. Das Gras ist nicht nur eine Attraktion der Natur, sondern eine Notwendigkeit für ein funktionierendes Ökosystem.
Die kleine Insel hat für individuelle Touristen viel zu bieten: Der Gast erreicht Formentera mit der Fähre von Ibiza oder mit einem Boot. Die kurzen Wege auf der Insel mit viel Ursprünglichkeit, die knapp 32 Straßenkilometer, empfehlen sich für Fahrräder oder Elektrofahrzeuge. Sehenswert sind die alten knorrigen Feigenbäume, die durch den Einfluss des Menschen zu Sonnenschutzschirmen für Ziegen geformt wurden. Sehenswert sind zudem die romantischen kleinen Orte mit ländlicher Ruhe, aber einer guten Infrastruktur. Eidechsen in fünf verschieden Farben - die Farbe angepasst an die jeweilige Umwelt - huschen über Mauern, Felsen und Wege. Ausschließlich kleine, zumeist von Familien geführte Hotels und Restaurants aller Kategorien lassen Formentera zum maritimen Magnet für anspruchsvolle Individualisten werden. 72 Kilometer Küste laden mit lauschigen Plätzen zum Verweilen ein, und 32 sogenannte ›Grüne Routen‹ mit insgesamt 130 Kilometer Länge wollen erwandert oder mit Bikes befahren werden.
»Formentera lebt heute zu hundert Prozent vom Tourismus. Selbst die Bankfiliale könnte hier ohne Tourismus nicht leben. Auf dem 82 Quadratkilometer kleinen Eiland wohnen im Winter zehn- bis zwölftausend Einwohner, im Sommer das Drei- bis Vierfache«, erklärt Alejandra Ferrer Kirschbaum, Tourismuschefin der Insel. »Doch wir haben die Kapazitätsgrenzen erreicht. Formentera will nicht mehr wachsen. Aber das müssen wir sehr laut herausrufen. Es wird sonst nicht gehört. Es ist schwer und langwierig, das Ziel, die Reduzierung des Tourismus zugunsten der Natur, durchzusetzen.«
Auch Posidonia leidet unter dem Zustrom und der Unwissenheit vieler Touristen. Seit 2012 hat die Küstenregion der kleinen Insel 40 Prozent ihrer Unterwasserwiesen verloren. Jedes Jahr wurden bisher mehrere Fußballfelder große Flächen zerstört. Diese Pflanze wächst langsam - nur ein bis drei Zentimeter jährlich. Lücken lassen sich also schwer wieder schließen.
Die Faktoren für den Rückgang der Unterwasserwiesen sind allerdings vielfältig und längst noch nicht vollständig wissenschaftlich unterlegt. »Es sind nicht allein die vielen Boote, die mit ihren Ankern den Meeresboden auf- und die Pflanzen ausreißen. Auch Abwässer von den vielen Schiffen und Booten bekommen den Pflanzen nicht und der Vormarsch anderer Pflanzenarten trägt dazu bei, die Posidonia zu verdrängen. Sicher haben die Erhöhung der Wassertemperatur, die Verschmutzung des Meeres vom Land, das Ausbaggern von Häfen oder bestimmte Arten des Fischfangs, die den Meeresboden zerstören, ihre aggressiven Wirkungen auf die Wiesen der Küsten«, erklärt die dynamische Tourismuschefin.
Ursprünglich als lästiges Beiwerk bekannt, rückt Posidonia in den Mittelpunkt des Interesses und wird zu einer touristischen Attraktion. Verschiedene Veranstaltungen gibt es mit und für diese Pflanze. Es darf für Schutz und Forschung gespendet werden - indirekt beim Kauf bestimmter Produkte oder mit den Eintrittsgeldern bei Veranstaltungen.
»Schau mal, was ich hier habe.« Wie auf ein Stichwort spricht Reiseexpertin Maria ihren Nachbarn an. Sie schwenkt den Kopf, lächelt und zeigt auf ihre Ohrringe und einen Armreif. »Habe ich mir heute extra zur Posidonia-Veranstaltung angelegt.« Der auf Formentera ansässige Künstler und Juwelier Enric Majoral orientiert sich voll auf Posidonia. Er verwandelt die Gestalt vom grünen Meeresgras zu Silber- oder Goldschmuck. Diese kreative und von vielen Besuchern Formenteras angenommene Kunst hilft der Natur zudem durch eine indirekte Spende.
Alvaro Blanco, Direktor des Spanischen Fremdenverkehrsamtes in München, begeistert sich für die Pflanze und die Projekte zur Erhaltung der Wiesen. »Diese Pflanze ist eine der langlebigsten, sofern der Mensch und der Rest der Natur nicht hart eingreifen. Die älteste Pflanze vor Formentera ist 100 000 Jahre alt, ein wahrer Methusalem. Übrigens, die längste vermessene Posidoniapflanze ist acht Kilometer lang«, erzählt er.
»Wichtig wird in Zukunft das wissenschaftliche Erforschen von Posidonia, zum Beispiel ihre Anforderungen an die Natur und an den Menschen, ihr Wert für ein intaktes Ökosystem im Meer und die Ursachen für ihren Rückgang. Wenn wir diese exakt kennen, dann können wir mehr tun. Erste Hilfe leisten wir bereits mit der Aufklärung der Insulaner und Gäste, durch Regulieren des Ankerns von Booten, durch das Markieren der Ankerplätze außerhalb der Meeresgraswiesen mit Ökobojen. Das richtige Ankern und die Abwasserentleerung werden überwacht«, resümiert Alejandra Ferrer Kirschbaum.
Infos
Touristische Infos Formentera:
Posidonia-Projekt:
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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