Indien und sein Wachstum ohne Richtung

Nach wie vor scheint die Wirtschaft der asiatischen Republik auf Erfolgskurs, doch die Gewinne sind immer ungleicher verteilt

  • Henrik Rubner
  • Lesedauer: 5 Min.

Beim G20-Gipfel kann der indische Premierminister Narendra Modi von wirtschaftlichen Erfolgen berichten, von dem so mancher Amtskollege nur träumt. Mit fast sieben Prozent Wachstum lag Indien 2016 knapp vor dem regionalen Rivalen China – und weit vor den Ökonomien des Globalen Nordens. Doch Modi will mehr.

Sein Ruf als erfolgreicher Wirtschaftspolitiker ebnete ihm den Weg zur Macht. Wird er diesem auch als Regierungschef gerecht, dann ist ihm die Wiederwahl 2019 so gut wie sicher. In Hamburg präsentiert er Indien darum als idealen Standort voller junger, gut ausgebildeter Menschen und mit einem demokratischen Staatsgefüge, das ausländische Investoren gern willkommen heißt. Schon im März verkündete die indische Regierung, dass man – ganz auf Linie der deutschen G20-Präsidentschaft – Protektionismus durch einzelne Länder ablehne.

Seine religiös-nationalistische Regierung erhofft sich so einen Wachstumsschub, bevor die Wirtschaft ins Straucheln gerät. Ein Schock war bereits die Entwertung eines Großteils des Bargelds im November 2016. Die Regierung hielt die Maßnahme zunächst geheim, sodass nach der plötzlichen Bekanntgabe wochenlang Chaos herrschte. Die streng begrenzte Ausgabe neuer Scheine verursachte stundenlange Wartezeiten an den Bankschaltern und auf dem Land gab es lange gar kein Geld mehr. Doch vor allem altbekannte Probleme bremsen das Wachstum auf Dauer. Bereits Modis Vorgänger haben die schadhafte Infrastruktur, den undurchsichtigen Behördendschungel und das marode Bildungssystem nicht erneuert. »Ohne den derzeit niedrigen Ölpreis wäre die Lage noch schlimmer«, glaubt Benny Kuruvilla, der für das bewegungsnahe Transnational Institute in Amsterdam forscht.

Demokratisch, aber gespalten

Die Gewinne sind zudem massiv ungleich verteilt. Nachdem Indien auf Druck des Internationalen Währungsfonds Anfang der 1990er Jahre die staatlich gelenkte Wirtschaft neoliberalen Reformen unterzog, hat die Ungleichheit immer weiter zugenommen. »Bei der völlig unzureichenden öffentlichen Daseinsfürsorge wird das Versagen besonders deutlich«, erklärt der Wirtschaftsprofessor Praveen Jha von der Delhier Nehru-Universität gegenüber »nd«. »Gemessen am Wirtschaftswachstum sind Indiens Fortschritte bei der Gesundheitsfürsorge, dem Bildungssystem oder Bekämpfung der Kindersterblichkeit kläglich«, so Jha.

Neben den wenigen indischen Milliardären profitiert vor allem die Mittelschicht, welche auf 10 bis 30 Prozent der 1,3 Milliarden Menschen umfassenden Bevölkerung geschätzt wird. Gleichzeitig leben nach wie vor Millionen Menschen in Armut und bleiben von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen.

Der Großteil von ihnen sind Dalits, die »Unberührbaren« am Ende des Kastensystems, oder Adivasi, Angehörige der indigenen Bevölkerung. Die Modi-Regierung grenzt jedoch auch religiöse Minderheiten, insbesondere Muslime, immer weiter aus. Für Kuruvilla ist diese zunehmende Spaltung die größte Herausforderung für das Land. »Gleichzeitig sind die Abgeordneten im Parlament reicher als jemals zuvor«, beklagt er.

Die Hälfte der indischen Bevölkerung ist 25 Jahre oder jünger und drängt auf den Arbeitsmarkt. »Nach staatlichen Schätzungen brauche wir jedes Jahr 10 bis 12 Millionen neue Arbeitsplätze, doch davon haben wir derzeit nur einen Bruchteil«, sagt Ökonom Jha. Ein Blick auf die Wirtschaftssektoren verdeutlicht dies: Am stärksten wächst der Umsatz bei Dienstleistungen, die inzwischen etwa die Hälfte der Gesamtwirtschaft ausmachen. Doch weniger als ein Viertel der Arbeitnehmer sind hier tätig. In der Landwirtschaft ist das Missverhältnis umgekehrt – und noch größer. Obwohl jede zweite Inderin und jeder zweite Inder auf dem Feld arbeitet, macht der Beitrag zur Wirtschaftsleistung nur 16 Prozent aus.

Eine Romantisierung des kleinbäuerlichen Lebens ist dabei fehl am Platze. Die Armutsquote ist auf dem Land besonders hoch, öffentliche Daseinsfürsorge ist kaum vorhanden und die Auswirkungen des Klimawandels sind unerbittlich. Laut einer Studie des Zentrums für die Erforschung von Entwicklungsgesellschaften (CSDS) in Delhi würden 76 Prozent der jungen Menschen der Landwirtschaft den Rücken kehren, wenn sie eine Alternative hätten. Dass solche Alternativen kaum existieren, zeigt auch die hohe Zahl der Selbstmorde: allein im Jahr 2015 nahmen sich über 12.000 Bauern das Leben. Die öffentlichen Unterstützungsprogramme beschränken sich auf kurzfristige Nothilfe wie den Erlass von Krediten oder Zuschüsse in Dürrezeiten. Gegen die Schwankungen des Marktes schützen bisher staatliche Mindestabnahmepreise für landwirtschaftliche Produkte. Doch schon lange ist dieses System im Visier exportstarker Nationen und die Existenzgrundlage von Millionen steht auf dem Spiel.

Viele wandern darum in die Metropolen ab. Fast ein Fünftel der Bevölkerung ist saisonal oder dauerhaft in andere Landesteile gezogen und in weniger als 20 Jahren wird die Hälfte der Inderinnen und Inder in Städten leben. Dabei ist die urbane Infrastruktur bereits jetzt überfordert. Die Neuankömmlinge werden an die Ränder der Städte in elende Behausungen gedrängt, für die sie häufig horrende Mieten zahlen müssen. Doch hier finden auch Ungelernte noch Jobs, »wenn auch für einen Hungerlohn«, stellt Kuruvilla klar. »Sie arbeiten dort unter prekären Bedingungen, fast immer ohne arbeitsrechtliche Absicherung.«

Bisher beobachtet die Regierung diese Entwicklung eher passiv. »Sie müsste aber vielmehr den Millionen jungen Menschen vor Ort eine Zukunftsperspektive bieten und die Industrie im ländlichen Raum stärken«, kritisiert der Forscher. Zudem hat fast niemand eine formale Berufsausbildung, da die Kenntnisse meist durch Familien- und Kastenstrukturen weitergegeben werden. Und selbst Uniabsolventen aus technischen Fächern sind häufig nicht in der Lage, ihre Kenntnisse in der Praxis anzuwenden. Einige große Konzerne bilden ihre Mitarbeiter darum selbst aus, oder setzen für einfache Tätigkeiten gleich auf Maschinen. Ohne eine berufliche Qualifizierung breiter Bevölkerungsschichten wird die Ungleichheit darum weiterwachsen. Wenn ein Ausbildungsschub aber gelingt, würde nicht nur die Wirtschaft auf stabileren Füßen stehen, sondern die Gewinne werden endlich gerechter verteilt.

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