Politik per Pflasterstein?
Nicht nur René Heilig wird üble Erinnerungen vom G20 mitnehmen. Die Gipfelkolumne
Nein, auf Hamburgs Straßen waren in der vergangenen Nacht im Schanzenviertel keine - zurecht empörten - Massen auf dem Marsch wider das System, um ein gerechteres für alle Bewohner des Planeten zu fordern. Gewiss, solche Menschen, die man nicht nur bei einer Demonstration gerne neben sich hat, die traf man in den vergangenen Tagen auch. Jedoch unter dem Strich zu selten, zu wenige. Jedenfalls für die Bilder, die von Hamburg bleiben.
Berichtet wurde zumeist über »diese Chaoten«. In der Regel männlich, zumeist schwarz gekleidet, oft gut trainiert und gern hemmungslos. Gemeint sind durchaus beide Seiten - die autonom Organisierten und die staatlich Kommandierten. Voll cool, wie die einen den Rechtsstaat verteidigten, wie sie junge Mädchen mit Reizgas zum Weinen bringen und mit Wasserwerfern Leute vom Dach fegten.
Doch auch die andere Seite hat was zuwege gebracht: Porsche anzünden ist auch cool. Autos killen überhaupt. Sollen sie brennen, die verhassten Symbole des verhassten Staates. Ob die Typen, die einen Stein in die Autoscheiben warfen und jene, die dann Bengalofackeln hinterherwerfen, einmal nachgesehen haben, ob da ein Kindersitz drin ist? Hat nur einer von denen darüber nachgedacht, ob eine alleinstehende Hamburgerin nun am Ende ist, weil sie es ab Montag nun nicht mehr schafft, ihren Nachwuchs in die Kita zu bringen, um dann zum Job zu hasten?
Die »Helden«, denen noch zu viele zujubelten, wagten sich kaum an Polizeifahrzeuge heran. Die Autos von Pflegediensten waren leichter anzuzünden. Mögen doch Opa Karl in seinem Dreck liegen bleiben und Oma Emma vergeblich auf die Insulin-Spritze warten.
Super auch, wie die Schaufensterscheiben splitterten. Warum schrieben die Ladenbesitzer im Schanzenviertel auch an ihre Läden dran, dass sie zwar gegen den G20-Gipfel sind - doch auch gegen den Schwarzen Block?! Hat einer der Steinwerfer darüber nachgedacht, dass seine Tat Familien ärmer und Versicherungen reicher machen kann?
Das alles lässt sich nicht mit dem rüden Einsatz der Polizei rechtfertigen. Deren Befehlshaber haben es von Anfang an auf Konfrontation angelegt. Wollten die Uniformierten ihrem Ersten Bürgermeister schaden? Der hoffte, dass Bilder eines weltoffenen Hamburg durch die Welt gehen. Was hat er bekommen? Anti-Werbung: Meidet Hamburg! Und sei es nur deshalb.
Olaf Scholz sollte sich seinen Innensenator und Parteifreund Andy Soundso - den Namen Grote muss man sich nur merken, wenn man ein Beispiel für einen sozialdemokratischen Versager parat haben will - einmal gehörig zu Brust nehmen. Und den Senator für Justiz, der sich als grüner Maulhalter - so oder so - nicht für Höheres empfohlen hat, gleich dazu. Das Herausgerede, man habe die Sicherheit der versammelten Weltelite garantieren müssen, trägt nicht. Denn es war auch und gerade die Pflicht der über 20.000 Polizisten, das verfassungsmäßige Recht der Bürger auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit zu sichern. Da gibt es kein Entweder-oder.
Nein, das, was auf Hamburgs Straßen geschah, ist nicht das Ende der Demokratie. Wohl aber ein Ausweis ihrer Schwäche. Vor lauter Angst, mit »Störern« in einen Topf geworfen zu werden, haben sich Parteien, Verbände, Gewerkschaften ganz klein gemacht. Statt geistvoll, tolerant untereinander, bewaffnet mit guten Argumenten statt mit Steinen und bisweilen auch einmal fröhlich zu stören, verdrückten sich viele ins Grüne. Wenn überhaupt mobilisierte man im Kleinen.
Das konnte sogar die Polizei besser. Die holte Kollegen aus halb Europa nach Hamburg, von der französischen CGT oder den skandinavischen Linken dort hingegen kaum eine Spur auszumachen. Aber warum auch, wenn die DGB-Spitze und die Chefs der deutschen Einzelgewerkschaften sich ein nettes Wochenende machen?! Es wäre an ihnen gewesen, gemeinsam mit allen, die kein »Weiter so« wollen, zu demonstrieren, Transparente hochzuhalten, Flyer zu verteilen, zu diskutieren. Gegen G20. Doch bitte differenziert.
Denn es macht schon einen Unterschied, ob man über den kanadischen Premier Justin Trudeau oder Sultan Erdogan spricht. Man hätte auf der Straße, nicht in langweiligen Presseerklärungen, deutlicher sagen und zeigen müssen, was der demokratischen Öffentlichkeit hierzulande wichtig ist. Nur sehr wenige oppositionelle Meinungsführer waren überhaupt gewillt, Gesicht zu zeigen und bunte Alternativen gegen das ewige Schwarz im Kanzleramt vorzustellen. Und ja, es hat die friedlichen und inhaltsvollen Demonstrationen gegeben. Nicht zuletzt am Samstag. Aber die machen einen Gesamteindruck nicht wett.
Die, die sich dem Gipfel in Hamburg durch Ignoranz verweigerten und jene, die in Hamburg Steine warfen, haben sogar eines gemeinsam: Sie halfen im Umfeld des G20-Gipfels nicht einem einzigen syrischen Kind, am Leben zu bleiben. Sie haben in Hamburg nichts gegen das Schmelzen der Polkappen oder zur Bekämpfung von Seuchen getan. Sie haben - wo alle Welt hinsah - das alles jenen überlassen, die eine gehörige Schuld daran tragen, dass die Welt sich im Wahnsinnstaumel befindet.
Es sind die, die Kriege anzetteln, die das Elend in Afrika beklagen und unfaire Handelsabkommen durchsetzen. Es sind jene, die die UNO ausbooten und das Völkerrecht verhöhnen, die, die Waffen quer durch die Welt verkaufen und Armen Arzneimittel verweigern. Doch: Aus welchen Gründen auch immer Putin und Trump, die seit Jahren in Syrien Bomben werfen lassen, sich nun auf einen teilweise Waffenstillstand in Syrien geeinigt haben - das sie es taten, zählt und rettet vielleicht doch das Leben von Kindern.
Man wird sehen, wie die Geschehnisse in und vor den Hamburger Messehallen in den kommenden Wochen aufgearbeitet werden. Nur in oberflächlichem Wahlkampfgeschnatter? Nein danke! Das wäre ein weiteres Armutszeugnis der Demokratie.
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