Ein Netz verstrickter Gefühle
Andrea Breth inszenierte Wolfgangs Rihms Kammeroper »Jakob Lenz« beim Staatsopern-Festival »Infektion!«
»Wenn der Bauer außer den Frondiensten, die er dem Edelmann, und denen, die er dem König tun muss, noch von dem wenigen Schweiß, den er für sich verwenden kann, alles bis auf die Hefen für außerordentliche Abgaben aufopfern muss - die Feder fällt mir aus den Händen für Entsetzen.« (Jakob Michael Reinhold Lenz)
Das Bild stimmt. Es ist aus tiefer innerer Not geboren. Solcher Entsetzlichkeiten ansichtig, musste einem hochsensiblen Dichter wie Lenz der Atem wegbleiben und die Feder versagen. Daneben die arge Enttäuschung am Weimar Hof. Ärger hätte sie nicht ausfallen können. Lenz koproduziert dort mit Goethe aufs Innigste (selbst im Intimbereich auf das Weibliche bezogen), bis der sein Talent verrät und ihn des Hofes verweist. Lenz sei bloß ein vorübergehender Meteor, für einen Augenblick lang über den Horizont der deutschen Literatur hingezogen und, ohne im Leben eine Spur zurückzulassen, plötzlich verschwunden.
Die Folgen sind verheerend. Selbstzweifel plagen den Dichter, er wird schwermütig, depressiv. Dazu plagt ihn unendliches Liebesleid. Allgegenwärtig ist Friederike, identisch mit Goethes Freundin Friederike Brion. Psychische Krankheitssymptome ungeheuerlichsten Art brechen hervor. Panische Ängste und manische Ausbrüche befallen den Dichter unter der Obhut des Pfarrers Oberlin, der Lenzens Zustände protokolliert, für Georg Büchner geeignet, seine Erzählung »Jakob Lenz« darüber zu schreiben.
Dieselbe nahm der Komponist Wolfgang Rihm und schuf mit Librettist Michael Fröhling 1977/78 die gleichnamige Kammeroper. Rihm war zu der Zeit 25 Jahre alt, ein Mann, so entwickelt wie unentwickelt. Realismus in der Oper interessierte ihn nicht. Zu äußerlich, zu sehr handlungsorientiert, kaum Vieldeutigkeit, zu wenig Unbestimmtheit. Da falle ihm keine Note ein. Der historische Lenz müsse zurücktreten, schrieb Rihm damals einführend, und an seine Stelle ein »Netz verstrickter Gefühle« treten. Derlei entsprach durchaus der Zeit. Die »Neue Einfachheit« wogte auf Wellen der Gefühle wie der Fisch auf der Schaumkrone.
Rihm, der heißblütigste unter den komponierenden Spontis der neuen Generation, unterlief gleichsam die ausmathematisierten Formen der seriell komponierenden Avantgarde und scheute sich nicht, scheinbar verbrauchtes Material einzubauen: Tonalität, das Melische der Musik, die Sanglichkeit in Lied und Choral etc. Alle modernen Techniken zog er herbei und ging frei mit ihnen um. Seine Kammeroper »Jakob Lenz« in 13 Bildern ist ein Musterbeispiel dafür. Gefühlskonzentrate bilden die Fiber der Musik darin.
Die Büchner-Erzählung ist hierfür noch zu realistisch. Das Libretto fragmentiert sie und montiert zusätzlich Gedichte und Briefstellen von Lenz ein, die auf psychische Befindlichkeiten abheben, so dass die komponierten psychopathologischen Protokolle den Dichter als soziales Wesen restlos überschreiben. Im sechsten Bild erreicht den Einsamen, Verlorenen ein Brief des Vaters mit der Nachricht, er solle nach Hause ins heimische Livland zurückkehren. Eine Rebellion bricht in Lenz aus. Die Musik treibt diesen Vorgang klanglich bis zum Äußersten, verdoppelt ihn.
Die reale Vater-Sohn-Beziehung bleibt unergründlich. Der Vorgang ist austauschbar, abstrakt. Der Irre hat einen Vater, vor dem er flieht. Kafka hatte den in anderer Art auch. Fest steht, die Vater-Sohn-Beziehung war voller Störungen und Aggressionen. Die Komödie »Der Engländer« von Lenz ist beladen damit. Höchst aufschlussreich wäre es gewesen, den »Jakob Lenz« mit Friedrich Goldmanns Oper »Hot oder die Hitze« (1974) nach Lenz’ Stück »Der Engländer« zu kombinieren und nacheinander aufzuführen. Die ist in ihrer Art realistisch. Sie verzichtet auf einen tragischen Schluss (bei Lenz bringt sich der Sohn aus Verzweiflung mit einer Schere um) und lässt das Paar in heilloser Verwirrung fröhlich abhauen.
Wo des Dichters ganzer Kummer herrührt, seine Psychosen auslösende Nichtanerkennung, seine Sicht auf die sozialen Gebrechen um ihn herum, all das interessiert auch die Inszenierung von Andrea Breth nicht. Sie läuft wie der in der Partitur vergegenständlichte Prozess auf ein Scheitern des Protagonisten selbst hinaus. Sie lässt auch die scheitern, die ihm helfen wollen: Oberlin und Kaufmann. Lenz sei »wesentlich der Scheiternde selbst«, so Rihm in seinen Anmerkungen zum Stück 1979. Das ist falsch. Es gibt tieferliegende Gründe für sein »Scheitern«, richtiger für sein Irregewordenseins.
Im Kopf des Kranken wirbeln die Gedanken, die Assoziationen, die Erinnerungen umher wie die farbigen Glassplitter im Kaleidoskop, was die Musik noch intensiviert. Es ist aber eines, dem der Spiegel fehlt. Der Wirbel der Splitterchen ordnet sich zwar zu einem Gebilde. Aber den, der im Augenblick der Wahrnehmung sagen könnte, warum darin dieses geschieht und jenes nicht geschehen ist, nämlich die Gesundung, den gibt es nicht.
Natürlich ist der »Lenz« als eine »Chiffre der Verstörung« (Rihm) perfekt auf die Bühne gekommen. Elf Staatskapellmitglieder spielen: Oboen, Klarinetten, Fagotte, Trompete, Posaune, Schlagzeug, Cembalo und drei Violoncelli. Die sechs Bläser korrespondieren ihren Lagen nach mit den sechs Stimmen: zwei Sopranen, zwei Alten, zwei Bässen. Sie bilden keinen Chor, sondern singen einzeln und überlagern einander. Über die Bildatmosphären hinweg treten sie auf wie Lemuren, wie Gespenster, mal auf halber Höhe wie Schattenwürfe, mal im Hintergrund unsichtbar.
Ostinatomodelle in Bläsern und Schlagzeug sind verstreut über das ganze Stück. Bibelzitate gesellen sich Momenten der Halluzination: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen«. Ein Tritonus-Intervall mit angehängtem Sekundschritt (h-f- fis/ges) ist strukturbestimmend. Die Musik, restlos ausgereizt auf der chromatischen Skala, brennt förmlich, wie der Delinquent in den Stadien seines Irreseins, durch die Oper. Die verbreitete Hitze gleicht einem Flächenbrand. Parliert und gesungen wird im zehnten Bild. An der Stelle »Was rät die Liebe dir?« treten die sechs Stimmen polyphon zusammen, im Fortissimo durchlöchert von den drei Celli. Auch Kinderstimmen figurieren in dem Bild. Selten sind Fermaten zu hören. Im sechsten Bild, der Kunstgesprächsszene, scheint fünkchenhaft Konkreteres durch. Kaufmann trifft ein, Lenz, der die krude Wirklichkeit sieht: »Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht. Wir können nicht was Bessr’es klecksen.«
Hell-Dunkel-Konstellationen hat die Bühne (Martin Zehetgruber) überreichlich. Die 13 Bilder geben je eigene abgründige, anthrazitartige Stimmungen wieder. Wo Licht hinfällt, tritt die rückweichende Nacht desto dichter zusammen. Lenzens letzte Zuckungen lauten »... konsequent, konsequent ...« Georg Nigl als Lenz, Henry Waddington als Oberlin und John Graham-Hall als Kaufmann hatten schwierigste Aufgaben zu lösen. Sie realisierten sie bravourös.
Nächste Vorstellungen: 12. und 14. Juli
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.