Das Warten auf die Müdigkeit
Fluchtgruppen haben bei dieser Tour kaum Chancen. Sie stellen sich auch nicht clever an
Patrick Lefevere hatte schon Mitleid mit den Konkurrenten. »Nein, wir werden nicht mehr sprinten. Es wird ja schon langweilig für die Zuschauer«, sagte der Chef von Marcel Kittels Team Quickstep vor dem Start der 11. Etappe zu »nd«. Wie bitte? Natürlich hatte sich der Belgier im Hochgefühl des Dauertriumphes nur einen Scherz erlaubt. Auch am Mittwoch beorderte er seinen Fahrer Julien Vermote an die Spitze des Fahrerfeldes. Der hatte sich schon am Dienstag ein Extralob vom Teamkollegen Kittel verdient. Der Thüringer, der am Mittwoch seinen fünften Etappensieg holte, bezeichnete Vermote als »besten Fluchtgruppenkiller im Peloton«. Es sei unglaublich, so Kittel, wie Vermote immer das richtige Tempo anschlage, um die Gruppen nicht wegzulassen. Das Gerücht, Vermote sei auch der beste Mathematiker im Peloton, machte daraufhin die Runde.
Der Belgier wehrte aber bescheiden ab. »Du musst die Beine haben, um ein Rennen zu kontrollieren. Und deine Beine sagen dir auch, welches Tempo du anschlagen sollst«, stellte er fest. Männern wie Vermote und Thomas De Gendt von André Greipels Lotto-Rennstall ist es zuzuschreiben, dass die Fluchtgruppen bislang noch nicht so recht zum Erfolg kommen. Routinier Marcus Burghardt sieht die Ursache darin, dass die Sprinter - und ihre Fluchtgruppenkiller - noch nicht müde sind. »Sie sind noch recht frisch, haben Kraft. Und weil die meisten Siege bei Kittel gelandet sind, sind die anderen Teams auch motiviert, die Ausreißer einzufangen«, sagte er. »In der zweiten und vor allem der dritten Woche wird das aber anders«, prophezeite Burghardt.
Bisher allerdings machten die Ausreißer den Sprinthelfern die Arbeit auch recht einfach. »Wenn nur zwei oder drei Mann wegfahren, haben es Leute wie Vermote oder unser Thomas De Gendt natürlich leicht, die Gruppe zu kontrollieren. Ich will mich gar nicht beschweren, aber ich verstehe wirklich nicht, was die anderen Teams, die keinen Sprinter dabei haben, hier machen. Worauf warten sie eigentlich?«, hinterfragte Lottos Teamchef Marc Sergeant die Strategie der anderen Mannschaften. Auch am Mittwoch wollten sich mit Frederik Backaert (Wanty), Marco Marcato (UAE) und Burghardts Teamkollegen Maciej Bodnar nur drei Fahrer auf die Flucht vor dem Peloton begeben.
Die mangelnde Beteiligung an solchen Gruppen ist tatsächlich ungewöhnlich. Nur bei den Bergetappen gab es einen regelrechten Ansturm. Da balgten sich 40, 50 Fahrer um einen Platz vorn. Auf den Flachetappen sind es aber nur wenige. »So kommst du einfach nicht durch«, schimpfte auch Yoann Offredo, unglücklicher Ausreißer in einem Duett am Dienstag. »Wenn niemand mitkommt, haben wir einfach keine Chance«, meinte er.
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In früheren Jahren war das anders. Zum Schrecken manches Klassementfahrers bildeten sich Gruppen von 20 Fahrern und mehr. Sie holten zum Teil eine halbe Stunde Vorsprung heraus. Der Bestplatzierte unter ihnen fuhr ins Gelbe Trikot des Gesamtführenden. Wie der Franzose Thomas Voeckler etwa, der 2004 seinen Landsleuten herrliche zehn Tage in Gelb bescherte, und erst spät von Lance Armstrong wieder überholt wurde.
Ein einziges legendäres Mal klappte es auch, dass ein Fluchtgruppenkönig den Toursieg holte. 1956 war das, Roger Walkowiak hieß der tapfere Mann. Der Franzose wurde in einer 31-köpfigen Fluchtgruppe nach vorn gespült und verteidigte seinen Vorsprung. »Tour à la Walkowiak« nennt man so etwas seitdem.
Eine Wiederholung in diesem Jahr ist jedoch unwahrscheinlich. Es gibt viele Sprintetappen, bei denen Teams wie Quickstep und Lotto ihre Spezialisten vors Peloton spannen. An den anderen Tagen übernimmt Sky vom Titelverteidiger Christopher Froome - auch keine Mannschaft, die so schnell auseinanderfällt. Erst recht nicht, wenn sie so wenig gefordert wird.
Vielleicht sollten die Organisatoren Nachhilfeseminare in Sachen Ausreißertaktik anbieten. Experten aus früheren Jahren gibt es durchaus im Umfeld der Tour, den Franzosen Jacky Durand etwa oder den Berliner Jens Voigt. Nur Walkowiak kann man nicht mehr befragen. Er starb im Februar 2017 im Alter von 89 Jahren.
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