»Ich habe keine Feinde und keinen Hass«

Mit dem Tod von Liu Xiaobo ist das politische China ärmer geworden

  • Finn Mayer-Kuckuk, Peking
  • Lesedauer: 5 Min.

Mit Liu Xiaobo ist ein Stück der Hoffnung auf ein freieres China gestorben. Der chinesische Friedensnobelpreisträger war 61 Jahre alt, als er am Donnerstag dem Leberkrebs erlag. Kurz vor seinem Tod hatte Liu noch den Wunsch geäußert, auszureisen. Die chinesische Regierung bestand jedoch darauf, ihn als Straftäter unter Bewachung zu halten.

Liu war der prominenteste und zugleich einer der tapfersten der Regimekritiker, die sich in den vergangenen Jahren gegen den chinesischen Staat gestellt haben. Sein Satz, »Ich habe keine Feinde und keinen Hass«, konnte als politisches Credo gelten. Doch weil er nicht schweigen wollte, hat die Justiz ihn wie einen Schwerverbrecher behandelt. Im Jahr 2009 wurde der Schriftsteller in Peking zu elf Jahren Haft verurteilt. Sein Delikt: Er hatte Artikel geschrieben, in denen er den Einparteienstaat kritisierte.

Liu hinterlässt seine Frau, die Dichterin Liu Xia. Sie hat ebenso tapfer gekämpft wie er selbst. Sie verfasste zwar nicht die politischen Aufsätze, doch hielt sie immer fest zu ihrem Mann. Liu Xia wurde in den langen Jahren seiner Haft zu seiner Sprecherin, stand selbst unter Hausarrest, litt unter Depressionen, musste alles mit durchleiden. Liu Xia ist die zweite Heldin dieser Geschichte.
Sie war eine junge, Dichterin, hatte gerade erstmals einen Band mit Lyrik veröffentlicht, als sie sich in Liu Xiaobo verliebte – und er in sie, die »schönste Frau der Welt«. Das war in den Achtzigerjahren, sie war Mitte 20, er war fünf Jahre älter. Li Xiaobo setzte sich damals schon für Menschenrechte ein. Der damalige Reformkurs der Kommunistischen Partei gab ihm Hoffnung, etwas bewegen zu können. Er träumte von Meinungsfreiheit und einer offenen Diskussion über ein neues China. In langen Gesprächen mit Gleichgesinnten beriet er Wege, die Verhältnisse zu ändern.

Dann kam das Jahr 1989. Das Bedürfnis nach politischer Selbstbestimmung war immer weiter gestiegen, die Sowjetunion öffnete sich. Die Studenten gingen in Massen für ihre Rechte auf die Straße. Panzer rollten durch Peking. Die Regierung ließ den Protest zusammenschießen. Junge Erwachsene lagen auf der »Straße des Langen Friedens« in ihrem Blut.

Liu Xiaobo erwies sich als tragischer Held der Stunde. Er gehörte zur älteren Generation, hatte bereits promoviert, arbeitete als Hochschullehrer im Fachbereich Literatur. Er hatte die Demos mitorganisiert und Reden gehalten. Doch als klar wurde, dass die Regierung Gewalt anwenden werde, hatte er den sicheren Abzug von Hunderttausenden Studenten vom Tiananmen-Platz verhandelt. Hinterher landete er für fast zwei Jahre im Gefängnis. Er verlor seine Stelle.

Vom Sterben der Jugendlichen war Liu tief erschüttert. »Du hast nicht auf die Ermahnungen der Eltern gehört, du bist aus dem kleinen Klofenster zu Hause hinaus, und als du mit hocherhobener Fahne zu Boden gingst, warst du erst 17. Ich aber lebe weiter mit meinen 36. Weiterleben ist ein Verbrechen vor deinem Gespenst«, schrieb er 1991. Bilder von Blutlachen, das Geräusch der Schüsse gingen ihm nicht aus dem Kopf.

Doch gerade das Trauma war Ansporn, nicht aufzugeben. Kurz nach seiner Entlassung fing er an, eine Zeitschrift mit dem Namen »Demokratisches China« zu leiten, die heute noch in einer Online-Version weiterlebt. Der Titel ist klug gewählt: Die Volksrepublik versteht sich offiziell als Demokratie, auch wenn jeder weiß, dass keine freien Wahlen stattfinden. Nachdem er in seinen Artikeln unablässig für Meinungsfreiheit, unabhängige Richter und konkurrierende politische Parteien argumentiert hatte, steckte der Staat ihn 1995 erneut ins Gefängnis. Gleich im Anschluss musste er ins Arbeitslager.

»Nackte Füße tappen durch den Schnee
wie Eiswürfel fallen in ein Glas Schnaps
sturzbetrunken und irr
hängende Flügel von Krähen
unter dem endlosen Leichentuch der Erde
heulen schwarze lautlose Flammen.
Der Stift in der Hand, der auf einmal bricht
ein scharfer Wind durchbohrt den Himmel«,
beschrieb er damals seine Gefühle in einem Gedicht.

Liu Xia tat, was sie konnte, um ihren Mann zu unterstützen. Sie erwirkte das Recht, ihn zu heiraten. Die schlichte Zeremonie fand im Lager statt, doch sie gab den beiden künftig immerhin das Recht, sich zu sehen. Jeden Monat fuhr Liu Xia von Peking 600 Kilometer nach Nordchina, um wenige Minuten mit ihm zu verbringen und unter Aufsicht einige Worte mit ihm zu wechseln. Das ging drei Jahre so.

Von 1999 bis 2009 war Liu fast etwas überraschend für zehn Jahre frei. Die Polizei bespitzelte und piesackte das Ehepaar, doch immerhin lebten die beiden in Peking ein vergleichsweise normales Leben. Liu Xiaobo ergatterte einen Lehrauftrag und engagierte sich im chinesischen Ablegers des Schriftstellervereins PEN.

Schon im Olympiajahr 2008 bahnte sich jedoch die nächste Katastrophe an. Liu Xia berichtet später, sie habe von Anfang an »kein gutes Gefühl« mit der Charta 08 gehabt. In diesem Dokument stellten 303 Intellektuelle fest: »Chinas Bürgern wird klar, dass Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte universelle Werte sind und dass Volksherrschaft und Verfassungsstaat die Basis moderner Politik sind.« China müsse den Reformprozess, der bereits Hundert Jahre dauere, endlich abschließen und den »Traum unserer Väter« von einer freien Gesellschaft wahrmachen. China sei in den »Abgrund des modernen Totalitarismus« gestürzt. Das sogenannte Neue China sei nur dem Namen nach eine Volksrepublik, in Wirklichkeit aber eine Einparteiendiktatur und kaum besser als das alte Kaiserreich. Liu wurde noch vor der Veröffentlichung unter Arrest gestellt und 2009 zu der Gefängnisstrafe verurteilt, die er nicht überleben sollte.

Liu Xia litt in diesen acht Jahren fast genauso viel wie er. Sie blieb unter Hausarrest, der Geheimdienst hörte ihr Telefon ab, Polizisten bespitzelten ihr Haus 24 Stunden am Tag, nur in Ausnahmefällen durfte jemand sie besuchen. Sie sah ihren Mann erst in diesem Frühjahr für längere Zeit wieder, als er bereits abgemagert und vom Tod gezeichnet an Leberkrebs litt.

Liu hat sich 30 Jahre lang der allein regierenden Kommunistischen Partei entgegengestellt. Da es, entgegen seiner Hoffnung, in China derzeit keine breite Basis für Widerstand gibt, standen er und einige wenige Gleichgesinnte einsam da. Statt Vorreiter einer Bewegung zu sein, wurde Liu Xiaobo zum Märtyrer.

Gedichte und Schriften zitiert nach »Liu Xiaobo: Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass. Ausgewählte Schriften und Gedichte«, herausgegeben von Tienchi Martin-Liao und Liu Xia, Fischer 2013

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