Mit 90 noch neues Terrain

Herbert Blomstedt

  • Gerhard Müller
  • Lesedauer: 2 Min.

Manch anderer ist mit 45 schon alt, Herbert Blomstedt mit 90 noch jung: Kein Methusalem betritt das Podium der Neubrandenburger Konzertkirche. Er nimmt Platz auf dem Podest - der Stuhl ist das einzige Zugeständnis an das Alter, die Partitur bleibt ungeöffnet. Monumental und filigran, als hätte Bach sie revidiert, entfaltet er mit magischen Gesten die 5. Sinfonie von Anton Bruckner. Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern richteten am vergangenen Sonnabend zusammen mit der NDR-Elbphilharmonie das Geburtstagskonzert für den schwedischen Dirigenten aus.

Herbert Blomstedt hatte sich diesen Ort gewünscht, nicht Dresden, nicht Leipzig, wo er viele Jahre die Spitzenpositionen bei der Staatskapelle bzw. dem Gewandhausorchester bekleidete. Er wollte keinen alten Lorbeer, sondern neues Terrain. Eine Provinzstadt ohne musikalische Tradition, eine Konzerthalle, zwar schmucklos, doch ein Klangwunder wie die neue Elbphilharmonie in Hamburg - das war eine späte Herausforderung. Zwei Tage vorher hatte die lettische Organistin Iveta Apkalna die neue Domorgel eingeweiht, ein Geschenk eines örtlichen Unternehmers. Und nun Bruckner! Die Konzertkirche war besetzt bis auf den letzten Platz, am Ende erhob sich das Publikum zu einer minutenlangen Ovation.

Mit Blomstedt hielt einst ein neuer Geist Einzug in das Musikleben unseres Landes. »Ich bin Teil der antiromantischen Generation«, sagte er der Musikkritikerin Julia Spinola, Autorin des Gesprächsbandes »Herbert Blomstedt - Mission Musik« (Henschel/Bärenreiter 2017, 24,75 €). Die anderen berühmten Zeitgenossen wie Karajan, Sawallisch oder Masur, dem er 1998 als Gewandhauskapellmeister folgte, waren Erzromantiker. Blomstedts Ideale waren Barock und Neue Musik. Das machte seinen Musizierstil durchsichtig und dramatisch zugleich, unterscheidbar und einmalig. Als er nach Leipzig kam, wünschte das Orchester sich von ihm zuerst Haydn und Mozart, sie waren lange kaum gespielt worden. Auch Brahms oder Bruckner waren bei ihm, um ein Bonmot zu variieren, »Mozarts Geist aus Blomstedts Händen«, was nicht hieß: leise oder zaghaft. Sondern: con fuoco, mit Feuer.

Mit dem NDR-Orchester, dessen Chef er auch einmal war (1996 - 1998), verwandelte er Bruckners Fünfte nun in eine leidenschaftliche dramatische Passion, eine Erzählung von Leiden, Zweifeln und Triumph. Mehrmals, erzählt er mit Stolz, kamen Rockmusiker, denen Bruckner ein Buch mit sieben Siegeln war, nach seinen Konzerten zu ihm und schwärmten überwältigt von dieser Musik. Welch eine Spannweite: von Bach über Bruckner und John Cage bis zum Rock!

Ein Epigramm, das Angelus Silesius (auch er ein Barock-Dichter) über den Görlitzer Philosophen Jakob Böhme schrieb, könnte man diesem Dirigenten anpassen: »Der Fisch im Wasser, die Pflanze in der Erden,/ der Vogel in den Lüften, die Sonn’ am Firmament,/ der Salamander muss im Feuer werden,/ die göttliche Musik ist Blomstedts Element.«

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