Generation arm und arbeitslos

EU-Jahresreport zu Beschäftigung und sozialer Lage setzt Schwerpunkt auf junge Menschen

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Montag stellte EU-Sozialkommissarin Marianne Thyssen in Brüssel den jährlichen Beschäftigungs- und Sozialbericht vor. Auf einer Pressekonferenz sprach sie über die diesbezüglich »neuesten Trends«. Diese sind nach Ansicht der Kommission ausgesprochen positiv. So sei mit über 234 Millionen erwerbstätigen Menschen die Beschäftigungsquote in der EU heute höher als je zuvor. Gleichzeitig sei die Arbeitslosenquote »auf dem niedrigsten Stand seit Dezember 2008«. Zehn Millionen Jobs seien seit 2013 entstanden. Auch wenn nur 70 Prozent der erwerbsfähigen Menschen einen Arbeitsplatz hätten, könne alles in allem, so das Fazit der Kommissarin, von wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt in Europa gesprochen werden.

Der hohe Preis dieses »Fortschritts« fand hingegen kaum Erwähnung. Besonders deutlich wurde dies, als Thyssen auf die Frage eines Journalisten, wie sie zur Arbeitsmarktreform des französischen Präsidenten Emmanuel Macron stünde, antwortete: »Da kann ich eigentlich nur begeistert sein, denn Strukturreformen sind genau das, was wir brauchen.« Die »Reform« sieht unter anderem vor, die Mitbestimmung der Gewerkschaften einzuschränken und Abfindungen für Beschäftigte bei illegalen Kündigungen zu deckeln.

Problematisiert wurde allerdings, dass die jüngeren Generationen europäischer Bürger es deutlich schwerer auf dem Arbeitsmarkt haben als ältere Beschäftigte. Sie seien häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen als der Durchschnitt. Dabei sind die Unterschiede innerhalb der EU enorm: In Griechenland liegt bei den 15 bis 24-Jährigen der Anteil der Arbeitslosen bei 47 Prozent, in Deutschland bei sieben Prozent.

Junge Menschen arbeiteten zudem häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen, also mit befristeten Arbeitsverträgen, niedrigen Löhnen oder in Teilzeit. Dies wiederum habe, so EU-Kommissarin Thyssen, Auswirkungen auf Lebensentscheidungen, wie die Familiengründung. »Den jungen Menschen von heute und ihren Kindern wird es möglicherweise schlechter gehen als ihren Eltern«, sagte sie.

Und: Wegen der demografischen Entwicklung würden sie eine »doppelte Bürde« tragen, denn die Rentenbeiträge werden aller Voraussicht nach steigen, die Rentenbezüge hingegen sinken. Dies begründete Thyssen so: Die Erwerbsbevölkerung wird bis 2060 voraussichtlich um 0,3 Prozent pro Jahr schrumpfen. Kommen heute auf einen Rentner vier Arbeitnehmer, werden es 2060 nur noch zwei sein. Daraus schlussfolgert die Kommission, dass »Rentenreformen« in den Mitgliedsstaaten der EU notwendig seien. Gemeint ist wohl, das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Das legt zumindest die Formulierung der Kommissarin nahe, dass das Verhältnis zwischen Lebenserwartung und Rente »aneinander angepasst« werden müsse.

Neben diesen Vorschlägen, die nach einem »Weiter so!« in Sachen Neoliberalismus und Austerität klingen, forderte Thyssen Investitionen in Qualifizierungsmaßnahmen, um die »Arbeitsmarktfähigkeit« junger Menschen zu erhöhen. Und sie verwies auf die europäische Säule sozialer Rechte, die die EU-Kommission auf den Weg bringen möchte. Man müsse rasch handeln, um »Generationengerechtigkeit« herzustellen, so Thyssen. Die Säule sozialer Rechte werde soziale Standards und Lebensbedingungen für künftige Generationen »erhalten und verbessern.«

Ein ausführlicher Vorschlag für diese soziale Säule wurde im April von der Kommission vorgelegt, im Herbst wird ein EU-Sozialgipfel in Göteborg stattfinden. Unter anderem von den Gewerkschaften hagelt es Kritik, weil die Maßnahmen aus ihrer Sicht nicht weit genug führen und daher Wirkungslosigkeit drohe.

Wie begrenzt EU-Initiativen sein können, zeigt der Umgang mit Praktika. Da diese in vielen EU-Ländern missbraucht werden, um junge Menschen unentgeltlich schuften zu lassen, könnten verbindliche Regeln Abhilfe schaffen. Dazu erklärte die Kommission am Montag: Leitlinien gebe es schon, derzeit werde zudem an einem »Qualitätsrahmen für Lehrlinge« gearbeitet. Aber: Es handele sich freilich nur um Richtlinien, nicht um Gesetze. Man fände es aber »gut«, wenn diese überall umgesetzt würden.

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