Schicksal am Aktenfließband
Verwaltungsgerichte bekommen die Schnellschüsse des BAMF als Klagen auf den Tisch
Wie viele Asylanträge sind derzeit in Deutschland zu entscheiden? Die EU-Statistikbehörde Eurostat sagt: rund 483 000. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gibt die Zahl 232 000 an. Die Brüsseler Angabe ist höher, weil die Statistiker auch jene Asylbewerber mitrechnen, die gegen ihren ablehnenden Asylbescheid klagen, während die Nürnberger Behörde diese bereits als erledigt betrachtet. Die Differenz von rund 250 000 gibt mithin die Zahl der Asylbewerber an, die gegen ihren Bescheid klagen.
250 000 Klagen liegen offenbar weit über der Belastungsgrenze der Verwaltungsgerichte. Als »dramatisch« schildert der Vorsitzende des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter, Robert Seegmüller, den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland deren Lage. »Das ist wie bei einem Motor, der im roten Bereich gefahren wird. Eine Zeit lang geht es gut, aber nicht dauerhaft.« Eine derartige Zahl an Verfahren könne die Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Dauer nicht aushalten, zitieren die Zeitungen den Richter. »Wir stoßen derzeit komplett an unsere Grenzen.« Irgendwann werde alles zusammenbrechen. Seegmüller erwartet 2017 eine Verdoppelung der Verfahren gegenüber 2016.
Fehlende Richter, fehlendes Personal, fehlende Räume und IT-Kapazitäten sind Folge einerseits der gestiegenen Zahl von Flüchtlingen, die 2015 und 2016 Deutschland erreichten. Aber der immense Anstieg der Widerspruchszahlen resultiert andererseits auch aus der Qualität der Bescheide. Etwa jede vierte Entscheidung des Bundesamtes landet den Angaben zufolge vor Gericht. Von knapp 696 000 Asylentscheidungen im letzten Jahr wurde in 24,8 Prozent der Fälle geklagt.
Als Frank-Jürgen Weise 2015 zusätzlich zu seinem Job als Chef der Bundesagentur für Arbeit noch den des Chefs des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) übernahm, da wurde von ihm nicht weniger als ein Wunder erwartet. Den Berg von Hunderttausenden Asylanträgen abzuarbeiten, das war seit Jahren nicht gelungen, nicht einmal kleiner war er geworden. Und unter der Wucht des Ansturms Hunderttausender neuer Flüchtlinge schien die Aufgabe geradezu irreal. Doch Weise übernahm den Job und versprach das Wunder. 1,1 Millionen Entscheidungen sollten allein im Jahr 2016 getroffen werden, so lautete seine Zielvorgabe.
Arbeitskräfte wurden eingestellt, das ungeschulte Personal allerdings teilweise ohne Ausbildung eingesetzt. Mentoren am Arbeitsplatz sollten das Manko ausgleichen. In sogenannten Entscheidungszentren wurden Verfahren beschleunigt. Die Anhörung von Flüchtlingen und die Entscheidung über ihr Asyl wurde personell getrennt; auch in Außenstellen des Bundesamtes hielt die umstrittene Methode Einkehr.
Weise ist das Wunder trotzdem schuldig geblieben. Obwohl er seine Zweitbehörde zu Beginn dieses Jahres in höchsten Tönen lobte, kurz bevor er sie wieder verließ. Die Hälfte der Neuanträge werde inzwischen in ein oder zwei Wochen entschieden, insgesamt dauere es nun nur noch zwei Monate. Dem widerspricht allerdings, was die Bundesregierung auf Nachfragen der Linksfraktion im Bundestag über die Verfahrensdauer angibt. In den Entscheidungszentren lag im ersten Quartal 2017 die durchschnittliche Bearbeitungsdauer mit 10,9 Monaten nur unwesentlich unter der durchschnittlichen Gesamtdauer der Behörde, die bei 11,3 Monaten lag.
Und so ist es kein Wunder, dass trotz Automatisierung der Bearbeitung, trotz Einteilung in asylrechtlich »einfache« und »schwierige« Länder, trotz Vernachlässigung der individuellen Würdigung jedes Einzelfalls die Zahl der Altfälle von rund 400 000 am Ende des Jahres 2016 nicht kleiner geworden war, sondern sogar leicht angestiegen. Die politische Vorgabe, sie bis Mai 2017 abzuarbeiten, wurde inzwischen bis September verlängert. Dafür wurden jedem BAMF-Entscheider täglich drei Anhörungen oder dreieinhalb Entscheidungen pro Tag auferlegt. Schicksalsentscheidungen am Fließband wecken Widerspruch der Betroffenen in zunehmender Zahl. Das Ergebnis sind mehr und mehr Klagen vor den Verwaltungsgerichten.
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